Oder warum ein Wolf sich nicht erziehen lässt.

Wieder einmal bat mich ein Kunde um meine Meinung zur Sinnhaftigkeit verschiedener Beiträge in den Medien, in denen Hundetrainer Erziehungs-Ratschläge für verhaltensauffällige oder aggressive Hunde geben. In diesem Fall ging es darum, was zu tun sei, wenn der Hund der Boss sein wolle und sein daraus resultierendes Verhalten störe.

Ich will mich hier jedoch nicht vordergründig zu den Ratschlägen äußern, die dort als vermeintliche Lösungen feilgeboten werden, sondern die Formulierung aufgreifen „Wenn der Hund unser Boss sein will“ und versuchen, deren irreführende Botschaft zu widerlegen und damit indirekt zumindest einen Teil der Ratschläge ad absurdum führen. In einer solchen Botschaft ist nämlich auch begründet, warum so viele Versuche, einen unerzogenen Hund erziehen zu wollen, scheitern oder sogar scheitern müssen.

Immer mal wieder höre ich, oder werde wie in diesem Fall von Kundinnen darauf hingewiesen, dass vermeintlich kompetente Hundetrainer argumentieren, aggressives Verhalten sei darin begründet, dass der Hund danach strebe, „der Chef sein zu wollen“ und sich deshalb wie ein Leinenrambo aufführe. Im gleichen Kontext stehen solche „Weisheiten“ wie „der Hund sei dominant“ oder „er wolle der Rudelführer sein“.

Noch irrwitziger wird es, wenn es heißt, der Hund komme mit einer angeborenen Rudelstellung auf die Welt, und wenn diese zufällig die des Rudelführers sei, der Mensch sie ihm aber streitig mache, käme es zu einem Konflikt und somit zu den Verhaltensauffälligkeiten. Auf diesen Unsinn hier einzugehen, verzichte ich jedoch, denn zu dessen Widerlegung erscheint mir schon die einfache Schulbildung als ausreichend, wenn man im Biologieunterricht wenigstens die Mendelschen Regeln nur ansatzweise verstanden haben sollte.

All diese „Weisheiten“ lassen unkritische Zeitgenossen jedoch vermuten, der domestizierte Haushund sei immer noch ein Rudeltier oder sein Dispositionsgefüge (Veranlagungen, Instinkte und Bedürfnisse) habe immer noch Ähnlichkeit mit dem seines Stammvaters, dem Wolf. Woraus dann nicht nur Laien schließen, sondern leider eben auch vermeintliche Fachleute, dass der domestizierte Haushund noch ähnliche durch Instinkte gelenkte Verhaltensweisen wie die des Wolfes an den Tag lege. Jedes Kind kennt schließlich die vielen Geschichten über ein wölfisches Rudelleben und das darin angeblich ablaufende Gerangel um die Rangordnung. Woraus dann die oben zitierten „Weisheiten“ entspringen.

Abgesehen davon, dass die Bildung einer Rangordnung in einem Rudel bei weitem nicht so „rüpelhaft“ abläuft wie oftmals suggeriert und die Unterwürfigkeit der Rangniederen sich meistens aus einer reinen Freiwilligkeit ergibt, hat ein domestizierter Haushund, so wie wir ihn heute vorwiegend in der westlichen Zivilisation kennen, mit einer solchen nichts mehr am Hut.

Man darf nämlich nicht vergessen, dass die Wege beider Spezies sich vermutlich schon vor über dreißigtausend Jahren getrennt haben und die Evolution seitdem nicht geschlafen hat. Der Hund hat eine beispiellose Erfolgsstory geschrieben, die seinesgleichen sucht. Er hat wie keine andere Spezies derart erfolgreich eine Nische im Überlebenskampf gefunden, die ihn heute zum am besten angepassten Haustier des Menschen gemacht hat und seine zahlenmäßige Verbreitung den Wolf vor Neid erblassen lässt.

Allerdings zu einem hohen Preis, wenn man diesen an den Veränderungen seines Dispositionsgefüges festmacht. Studien belegen, dass ihm beispielsweise die Instinkte zur Bildung der typischen Strukturen eines Rudels, das unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass die Mitglieder nicht beliebig austauschbar sind und bestimmte Rangordnungen gebildet werden, quasi abhandengekommen sind. Und zwar aus einem einfachen Grund: Er benötigt diese Fähigkeiten nicht mehr, weil er die Vorteile eines Rudellebens für sein Überleben nicht mehr benötigt. Er kann zwar immer noch in Gruppen zusammenleben, so er dazu gezwungen wird, aber einen Vorteil zieht er daraus nicht mehr. Im Gegenteil, andere Hunde stören ihn eher, als dass er deren Nähe sucht (außer während der Läufigkeit zur Weitergabe seiner Gene). Aber ein domestizierter Haushund würde, so er die Wahl hätte, sich immer gegen die Gemeinschaft mit seinesgleichen zugunsten einer monogamen Beziehung zu einem Menschen entscheiden. Denn nur das ist Garant seines Wohlbefindens.

Nun könnte man ja fragen, was soll’s, oder was ist dabei, wenn man unterstellt, der Hund wolle der Boss sein?

Die Antwort lautet: Dann wäre die Erziehung eines Hundes, dessen störendes Verhalten angeblich in seinem Machogebaren begründet ist, quasi unmöglich oder zumindest nur scheinbar!

Denn die Erziehung des Hundes, im Gegensatz zu seiner Ausbildung oder Dressur, muss immer auf eine Beeinflussung der in seinem Dispositionsgefüge begründeten Verhaltensweisen abzielen, denn nur dadurch führt sie zur „Einsicht“, was das wesentliche Merkmal einer Erziehung ist. Der Hund muss quasi anschließend aus ureigenem Interesse sich so verhalten wie er sich verhalten soll. Ansonsten wäre es keine Erziehung, sondern lediglich eine Konditionierung, so wie zuvor erwähnt bei der Ausbildung oder Dressur. Und wenn das Dispositionsgefüge, welches immer der Auslöser des unerwünschten Verhaltens ist, irrtümlicherweise mit dem eines Wolfes verglichen wird – und das wird es, wenn unterstellt wird, der Hund wolle der Boss oder Rudelführer sein –, wird im Rahmen seiner Erziehung versucht, auf etwas Einfluss zu nehmen, was es gar nicht gibt.

(Im Übrigen ist das ständige Streben eines Wolfes nach dem Chefsessel auch eine alte Mär. Die Unterordnung unter die Rudelführerschaft der Elterntiere geschieht höchst freiwillig. Und wenn mit dem Pubertierenden die Gäule anfangen durchzugehen, verlässt er in der Regel das Rudel. Den ständigen Kampf um den Chefposten gibt es nur in Erzählungen selbsternannter Experten.)

Ein Hund hat es quasi im Rahmen seiner Domestikation „verlernt“, der Boss sein zu wollen oder gar der „Rudelführer“, weil das genaue Gegenteil, also seine nahezu bedingungslose Unterordnung unter den Willen des Menschen, ihm seinen Überlebensvorteil garantierte. Hätte er versucht, seiner menschlichen Bezugsperson wenigstens ebenbürtig sein zu wollen, geschweige denn, ihn zu dominieren, hätte der Mensch ihn zum Teufel gejagt. Das entscheidende Wesensmerkmal, welches den domestizierten Haushund deshalb von seinem Urvater unterscheidet, ist seine Unterwerfung unter den Willen und die Interessen seiner menschlichen Bezugsperson. Nur dadurch weiß er seine Grundbedürfnisse, zumindest das nach Stoffwechsel, zuverlässig befriedigt. Allerdings – wie ich gleich noch erläutern werden – verwechseln offensichtlich selbst vermeintliche Fachleute immer wieder das Streben des Hundes, ständig seinen Besitzer beschützen zu wollen, mit seinem angeblichen Streben nach dem Chefsessel.

Ein Wolf hingegen würde sich niemals „aus Überzeugung“, weil er daraus vermeintlich einen Vorteil generieren könnte, dem Menschen unterordnen. Er tut sich sogar schwer damit – selbst wenn er schon längere Zeit in Gegenwart des Menschen lebt – bei Problemlösungen dessen Hilfe einzufordern. Er klärt alle Probleme entweder allein oder mit Unterstützung seines Rudels. Ein Hund hingegen wird dafür immer die Hilfe des Menschen in Anspruch nehmen.

Hinzu kommt, dass die Erziehung – ebenfalls im Gegensatz zur Ausbildung – immer darauf abzielt, dem Hund den Grund für sein unerwünschtes Verhalten zu nehmen. Weil nur dadurch ihre Nachhaltigkeit gewährleistet wird. Das ist auch der Grund, warum man einen Hund niemals mit Hilfe eines Leckerlis erziehen kann. Denn durch ein Leckerli kann man keinen Verhaltensgrund aus der Welt schaffen, sondern lediglich ein temporär wirkendes Ablenkungsmanöver starten.   

Bleibt noch – wie oben erwähnt – die Frage nach dem Grund, warum selbst Hundetrainer glauben, der Hund wolle der Boss sein.

Die Antwort liefert die offensichtliche Unfähigkeit, den tatsächlichen Grund des unerwünschten Verhaltens (Zerren an der Leine, Aggressionen aller Art, Jagen, Verbellen usw.) zu erkennen. All diese störenden Verhaltensweisen sind nämlich weder in seinem Machogebaren begründet, noch in seinem schlechten Charakter oder sonstigen negativen Veranlagungen, sondern lediglich in der ihm überlassenen oder übertragenen Verantwortung, für seine und die Sicherheit der ihm anvertrauten Personen oder Ressourcen Sorge zu tragen.

Im Verlaufe seiner Domestikation wurden dem Hund vorwiegend drei Aufgaben übertragen: Entweder er sollte helfen, bei der Jagd Beute zu machen oder die Tiere auf der Weide hüten oder uns und unser Hab und Gut bewachen. Daraus resultiert ein Wesensmerkmal in seinem Dispositionsgefüge, das ihn grundsätzlich dazu motiviert, ständig für seine und unsere Sicherheit sorgen zu wollen. Und das Ganze sogar, ohne dass wir ihm diese Verantwortung ausdrücklich übertragen. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, wenn wir ihn von dieser Verantwortung nicht ausdrücklich entbinden, sorgt er von sich aus für Sicherheit. Dazu checkt er ununterbrochen die Umgebung nach Gefahren ab, versucht, jede potentielle Bedrohung auf Distanz zu halten oder greift sie sogar an.

Somit ist die Erziehung eines Hundes – und damit die Beseitigung seines unerwünschten Verhaltens – nichts anderes, als die erwähnte Entbindung von dieser Verantwortung. Dazu ist es notwendig, ihm zu demonstrieren, dass sein Beschützerverhalten nicht nur unerwünscht, sondern ab sofort sogar unnötig ist, denn Herrchen oder Frauchen werden ab sofort und ständig für ihre gemeinsame Sicherheit sorgen. Anschließend wird man feststellen, dass Bello und Co. noch nicht einmal mehr Interesse an ihresgleichen haben, weil sie deren Absichten nicht mehr gezwungen sind zu eruieren, geschweige denn, irgendeine Gefahr verjagen zu müssen. Der Hund wird ab sofort völlig entspannt an des Menschen Seite dahinschlendern im Vertrauen, Frauchen oder Herrchen sind der Boss und haben alles im Griff.

Gleiches würde bei einem Wolf allerdings nicht funktionieren. Er würde sich niemals die Verantwortung für seine eigene Sicherheit nehmen lassen, denn das würde unter Berücksichtigung seiner Lebenserfahrung den sicheren Tod bedeuten. Deshalb ist es auch sehr schwer bis unmöglich, so genannte Wolfshunde erziehen zu wollen, selbst wenn mehrere Generationen zwischen der Kreuzung liegen. Selbst wenn sie sich anschließend scheinbar dem Schutz des Menschen anvertrauen; es wird immer ein latent vorhandenes Restrisiko des Zurückfallens in alte und durch das Dispositionsgefüge begründete Verhaltensmuster bleiben, das auf die eigenverantwortliche Abwehr potentieller Gefahren abzielt.