Oder warum zerren Hunde an der Leine?

(Den folgenden Artikel habe ich meinen Hund Neo formulieren lassen, weil er am besten weiß, wovon wir hier sprechen):

Neo: „Folgenden Beitrag hat mein Chef im Netz der Facebook-Community von einer Corinna gelesen, der mich motiviert hat, ihr und ihrem Problem dieses Kapitel zu widmen. Sie schreibt: „…trotz professioneller Hilfe und Konsequenz bis zum Erbrechen glaubt unser Monsterlabbi immer noch, wer zerrt, gewinnt. Aber ich vertraue auf das Versprechen unserer Tierärztin, die meint, Konsequenz zahlt sich nach hinten raus aus, auch wenn es die ersten zehn Jahre nicht danach ausschaut. In diesem Sinne bleibe ich mit stoischem Optimismus gelangweilt stehen, wechsle die Laufrichtung, trainiere an der Schleppleine, belohne jedes Fußlaufen, als wäre es nobelpreisverdächtig…“

Wenn mein Chef derartige Wortmeldungen liest, auch wenn sie wie in diesem Fall mit einem gehörigen Schuss Ironie versehen sind, sie aber unzweifelhaft von einer kapitulierenden Resignation zeugen, sehe ich ihn kopfschüttelnd dastehen und fragen: „Warum wird seitens vermeintlicher Profis den hilfesuchenden Hundehalterinnen heute immer noch solch ein zum Himmel schreiender Unfug geraten, anstatt ihnen einfach zu helfen und ihr Problem ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen?“ Denn er glaubt, aus Corinnas Darstellung entnehmen zu können, dass die von ihr geschilderten „Gegenmaßnahmen“ nicht ihrer eigenen Expertise entsprangen, sondern vielmehr die Empfehlungen vermeintlicher Fachleuten zu sein scheinen, da sie von „professioneller Hilfe“ spricht. Und sollten sie gar die Empfehlungen ihrer erwähnten Tierärztin sein, müsste man der Veterinärin, ohne ihr zu nahe treten zu wollen und ihre Fachkompetenz anzweifeln zu wollen, raten, „Schuster, bleib bei deinem Leisten!“

Statt eines solchen Unfugs wie Stehenbleiben, Laufrichtung wechseln usw. hätte der professionelle Rat lediglich lauten müssen, dem „Monsterlabbi“ eine Erziehung angedeihen zu lassen. Und schon würde aus Corinnas zerrendem „Monster“ ein völlig entspannt an ihrer Seite schlendernder „Labbi“. Sie könnte anschließend sogar auf eine Leine gänzlich verzichten. Aber vermutlich wäre das nicht im wirtschaftlichen Interesse ihrer Ratgeber. Denn dann würde eine zahlende Corinna nur ein einziges Mal mit der Bitte um Hilfe an sie herantreten.

Um die Absurdität solcher Ratschläge, wie sie Corinna zwar mit stoischem Optimismus aber trotzdem ohne Aussicht auf Erfolg zu befolgen scheint, zu entlarven, genügt es lediglich, sich bewusst zu machen, worin denn der Grund oder die Ursache für unser Zerren an der Leine besteht und anschließend den gesunden Menschenverstand befragen, ob diese klugen Ratschläge auch tatsächlich für deren Beseitigung ein geeignetes Mittel darstellen oder nicht. Denn über folgendes sollte doch wohl Konsens bestehen: Das Zerren an der Leine ist nicht die Ursache, sondern die Wirkung einer Ursache. Denn ansonsten würden wir ja des Zerrens wegen zerren. Und das sollte selbst ein Laie als Nonsens erkennen. Also muss es eine Ursache bzw. einen Grund dafür geben, warum wir an der Leine zerren. Und wenn diese Wirkung oder Folge störend ist, was nicht zwingend der Fall sein muss, wie wir gleich sehen werden, so sollte man sich zum Zweck ihrer Beseitigung der sie auslösenden Ursache widmen, um diese zu beseitigen. Eine Wirkung lässt sich eben effektiv nur durch die Beseitigung ihrer Ursache und nicht etwa ihrer selbst beeinflussen. Ansonsten müsste man auch die Empfehlung eines Zahnarztes, bei Zahnschmerzen eine Schmerztablette zu nehmen, akzeptieren.

Bei der Beurteilung, ob ein Mittel geeignet ist, eine Ursache zu beseitigen, in unserem Fall den Grund für das Zerren an der Leine, genügt in der Regel der gesunde Menschenverstand. Denn dazu sind noch nicht einmal besondere Kenntnisse von Nöten geschweige denn das Fachwissen ausgebildeter Hundetrainer.

Lediglich die Eruierung der Ursache bzw. des Grundes für unser Zerren bedarf ein wenig mehr Sachverstand. Ähnlich wie beim Zahnarzt die Ursachen des Zahnschmerzes medizinische Fachkenntnisse voraussetzt. Aber auch der Zahnarzt würde sicherlich bestätigen, dass selbst das kein Hexenwerk sei.

Und wenn man den Grund für unser Zerren sucht, wird man fündig in unserem Dispositionsgefüge, sprich bei unseren Veranlagungen, Instinkten und Bedürfnissen, die das Resultat unter anderem unserer Domestikation und unserer Zuchthistorie sind. Denn mit Letzterem hat der Mensch das Ziel verfolgt, uns für ganz bestimmte Aufgaben und Zwecke zu qualifizieren und dabei unsere ohnehin schon vorhandenen Veranlagungen, Instinkte und Bedürfnisse geschickt ausgenutzt. So hat ein typischer Wach- und Schutzhund ein etwas anderes Dispositionsgefüge als eine typische Rasse, die für die Jagd gezüchtet wurde, um dem Menschen beim Beutemachen behilflich zu sein.

Und so sollte es auch nicht wundern, wenn wir, in Abhängigkeit unserer Veranlagungen, auch unterschiedliche Gründe vorweisen können, so man uns eine Leine anlegt, an dieser zu zerren. Warum beispielsweise ein Siberian Husky mit einem nahezu unvorstellbaren Enthusiasmus loszurennen versucht, so man ihm ein Geschirr anlegt, an dessen anderem Ende ein entsetzlich schwerer Schlitten hängt, denke ich, verlangt nach keiner großartigen Erklärung. Und warum ein Deutsch Drahthaar oder Weimaraner schnüffelnd eines Staubsaugers gleich zerrend davonzustreben scheint, lässt sich auch noch relativ leicht an seinem Bedürfnis, Beute aufspüren zu wollen, festmachen. Denn sie sind zwei Hunderassen, die typischerweise als Jagdhunde gebraucht werden und man deshalb ihre natürlichen Instinkte bewusst und selektiv verstärkt hat.

Nun sollte man aber keineswegs befürchten, die Gründe fürs Zerren entsprächen der Anzahl unserer Rassen. Weit gefehlt.

Denn summa summarum sind die Gründe dafür sogar nur an einer Hand abzuzählen. Und selbst von denen sind die meisten noch gewollt und keineswegs störend. Denn wenn ein Husky den voll bepackten Schlitten quer durch Sibirien zerrt, wird sich kaum ein Tschuktsche oder Sibirischer Jäger beschweren. Ebenso wie der Führer eines Such- und Rettungshundes, der an der Leine geführt nach Verschütteten oder Drogen suchen soll, sich sicherlich auch über jedes plötzliche Zucken und Zerren freut.

Sollten allerdings diese Hunde mit einer gänzlich anderen Absicht angeschafft worden sein, beispielsweise zwecks geplanter entspannter Spaziergänge durch Wald und Flur, sieht die Sache gänzlich anders aus. Denn dann entpuppt sich das natürliche Verhalten sehr schnell als nervend und störend.

So bleiben für das störende Zerren an der Leine, wie es das Beispiel von Corinnas „Monsterlabbi“ beschreibt, nur zwei Gründe. Der erste ist das zuvor bereits beschriebene Stöbern nach Beute. Und der zweite, der allerdings gemessen an der Anzahl der um Hilfe bittenden Kundinnen meines Chefs den überwiegenden Anteil repräsentiert, ist in unserem Streben begründet, unser Grundbedürfnis nach Sicherheit zu befriedigt zu wissen. Allerdings ist dieses Bedürfnis nicht nur auf unsere eigene Sicherheit beschränkt, sondern betrifft auch unsere Bezugspersonen oder die uns anvertrauten Ressourcen wie Haus und Hof.

Im Verlaufe unserer Domestikation hat der Mensch diese Veranlagung, die ohnehin schon immer Bestandteil unseres Dispositionsgefüges war, besonders gefördert und deren Ausleben durch uns auch im Rahmen der uns übertragenen Aufgaben speziell gefordert. Wir übernehmen die Verantwortung für die Sicherheit sozusagen schon von Standes wegen, auch ohne, dass sie uns explizit übertragen werden muss.

Und um dieser Verantwortung auch gerecht werden zu können, sehen wir uns veranlasst, quasi wie ein Bodyguard, stets die Umgebung nach Bedrohungen für diese Sicherheit aufzuklären, um selbige bei Notwendigkeit zu beseitigen bzw. zu verjagen. Dabei streben wir stets danach, sie schon weit voraus zu identifizieren, um rechtzeitig genug handeln zu können. Wie weit voraus, das bestimmt allein die Länge der uns überlassenen Leine. Und sollte Frauchen uns gänzlich von der Leine lassen, würden wir das Revier unter Umständen sogar in einem Radius einer Aufklärung unterziehen, der außerhalb ihrer Sichtweite läge.

Mit diesem Wissen ausgestattet, das übrigens zum Repertoire eines jeden gut ausgebildeten Hundetrainers gehören sollte, kann man nun recht fundiert beurteilen, ob die oben genannten und von Corinna so stoisch befolgten „Profi“-Ratschläge auch tatsächlich geeignet wären, ihren Monsterlabbi entweder von seinem Instinkt zu befreien, potentielle Beute machen zu wollen oder ihn von seiner Verantwortung für ihre gemeinsame Sicherheit zu entbinden.

Dazu schauen wir uns einmal die Empfehlungen der „Profis“ an, die da zunächst wären, doch einfach gelangweilt stehenzubleiben oder ab und zu die Laufrichtung zu wechseln, so das „Monster“ sich wieder einmal anschicken sollte, das Revier nach Beute oder Gefahren zu durchstöbern. Hand aufs Herz, glaubt allen Ernstes irgendein Angehöriger des ach so klugen und weisen Homo sapiens, man könne uns von unseren Instinkten befreien, indem Frauchen gelangweilt stehen bliebe? Oder sie könne uns unser Grundbedürfnis nach Sicherheit auslöschen, indem sie öfter mal in eine andere Richtung liefe? Für was für seltsame Wesen hält man uns eigentlich?

Liegt hier nicht eher der Verdacht nahe, dass den „Profis“, die Corinna diese aberwitzigen Empfehlungen gaben, die Gründe für unser Zerren überhaupt nicht bewusst sind und sie deshalb verwöhnt von ihren Erfolgen bei unserer Konditionierung, wenn sie uns Sitz, Platz und die Rolle rückwärts beibringen, glauben, man könne durch Wiederholung stets der gleichen Übung einen Lerneffekt erzielen, von dem sie wiederum irrigerweise glauben, es sei ein Erziehungseffekt? Ich denke, solcher Art „Profis“ leiden unter absoluter Ahnungslosigkeit.

Und noch aberwitziger wird es bei ihrer Empfehlung, mit dem „Monsterlabbi“ an der Schleppleine zu trainieren. Hier kehrt sich das bei den beiden zuvor genannten Empfehlungen einfache nur Ausbleiben des Erfolges sogar ins Gegenteil um, nämlich in eine Konsolidierung des unerwünschten Verhaltens. Denn mit der Schleppleine erhalten wir das unmissverständliche Signal, das Revier in einem noch viel größeren Radius nach Beute oder Gefahren zu durchstöbern. Mit anderen Worten, mit der Schleppleine werden wir erst recht motiviert, unseren Aufklärungsinstinkt zu befriedigen.

Bleibt noch der weise Ratschlag der Belohnung, so Corinnas Monsterlabbi einmal zufällig machen sollte, was er machen soll. Hierzu habe ich mich in meinen beiden Büchern ausführlich geäußert.

Alle von Corinna erwähnten „Gegenmaßnahmen“ wie Stehenbleiben, Laufrichtung wechseln, an der Schleppleine trainieren und Belohnen sind definitiv keine geeigneten Mittel der Erziehung, denn nicht eine einzige dieser unsinnigen Maßnahmen beseitigt den Grund für unser Zerren. Und wie ich am Beispiel der Schleppleine erläutert habe, kann es sogar zur Verstärkung unseres unerwünschten Verhaltens führen.

Auch wenn Corinnas Tierärztin irgendwann voller Selbstüberschätzung sagen wird, „na sehen Sie, Konsequenz zahlt sich nach hinten raus aus“, wird der irgendwann vielleicht eingetretene ‚Erfolg‘ eher das Resultat Monsterlabbis Alterns sein, weil er schlicht keine Kraft und Motivation mehr besitzt, Beute machen oder für Sicherheit sorgen zu wollen.

Deshalb: Finger weg von solch aberwitzigen Empfehlungen vermeintlicher Profis! Gönnen Sie Ihrem „Monsterlabbi“ stattdessen lieber eine Erziehung.

Euer Neo“