oder
Was hat das mit Jean de la Fontaine zu tun?
Kürzlich konfrontierte mich eine Kundin mit der Fragestellung, ob es denn möglich sei, dass ein unerzogener Hund durch einen fremden Hund erzogen werden könne. Und da es sich mir aus ihrer Fragestellung nicht sofort erschloss, auf welche Art der Erziehung sie sich bezog, konnte ich ihr zunächst nur mit einem Jein und Kommt darauf an antworten. Denn bevor man diese Frage bejahen oder verneinen kann, muss man klären, welche Art der Erziehung gemeint ist. Streng genommen müssen wir nämlich unterscheiden zwischen zwei Arten der Erziehung: Nämlich einerseits der Erziehung von Hunden untereinander, beispielsweise wenn sie in einer Meute aufeinandertreffen oder zusammenleben sollen, ohne dass der Mensch dabei Einfluss nimmt oder eine Rolle spielt, und andererseits der Erziehung eines Hundes durch den Menschen zum Zwecke des konfliktfreien Zusammenlebens beider. Letzteres wäre die Sozialisierung, die auf intraspezifischer (gegenüber seinesgleichen), interspezifischer (gegenüber anderen Mitgliedern der Fauna einschl. Menschen) und umweltspezifischer Ebene (gegenüber allen möglichen Umwelteinflüssen wie Lärm o.ä.) erfolgt oder erfolgen kann.
Also bat ich sie, mir zunächst den Kontext ihrer Fragestellung zu erläutern. Woraufhin sie von ihrem erfolglosen Besuch einer Hundeschule berichtete, die sie aufgesucht hatte, mit der Absicht, ihren vierbeinigen „Aggressor“ zur Vernunft bringen zu lassen, an der es ihm sowohl gegenüber seinesgleichen mangele als auch gegenüber fremden Leuten. Mit ihren Worten: Sie wollte ihren unerzogenen Hund erziehen lassen, so dass sie sich einigermaßen entspannt und ohne sein nervendes Gezerre an der Leine und aggressives Verhalten gegenüber allem und jedem in der Öffentlichkeit bewegen könne. Somit war klar: Das angestrebte Ziel war demnach nicht die erstgenannte sondern die zweitgenannte Art der Erziehung.
Mit dieser Aufgabenstellung beauftragt, habe daraufhin die Hundetrainerin ihren eigenen sogenannten Therapiehund ins Rennen geschickt und beide Protagonisten zusammengeführt. Sie habe damit bezweckt, so die Erläuterungen der Trainerin ihr gegenüber, dass im Ergebnis dessen der „Unerzogene“ aus dieser Begegnung quasi als „erzogen“ und therapiert hervorgehe, denn ihr „Therapeut“, der ein sehr dominanter Vertreter seiner Spezies sei, werde das schon klären.
Abgesehen von dem daraufhin abgelaufenen riesigen Tohuwabohu dieses Unterfangens, denn beide Kontrahenten waren sich wohl ziemlich ebenbürtig und unser „Aggressor“ nicht sofort „einsichtig“, schien es aber am Ende tatsächlich so auszusehen, als würde er doch klein beigeben und zu einer Art „Lamm“ mutieren. Aber der Schein war trügerisch. Bereits wenige Tage später, quasi als der Delinquent sich in seinem gewohnten Alltag wiederfand, war er wieder ganz der „Alte“.
Das heißt, der Erziehungsversuch ihres unerzogenen Hundes durch einen fremden Hund war faktisch fehlgeschlagen. Und deshalb wollte die Kundin nun von mir erfahren, ob dieses Unterfangen grundsätzlich zum Scheitern verurteilt oder es halt nur in diesem konkreten Versuch nicht geglückt sei.
Ich muss zugeben, während die Frau mir ausführlich ihre Erlebnisse schilderte, schweiften meine Gedanken etwas ab, denn ich musste mich unwillkürlich an eine Episode erinnern, als der Opa meines kleinen Sohnes ihm von der Fabel des Dichters Jean de la Fontaine „Der Bär und der Gartenfreund“ erzählte:
Wer kennt sie nicht, die Fabel, in der sich ein Bär mit einem Einsiedler anfreundet. Als Letzterer eines Tages ein Nickerchen hält, wird er von einer Fliege belästigt, von der ihn sein pelziger Freund zwar eifrig aber erfolglos befreien will. Darüber selbst erzürnt, greift der Bär übereifrig zu drastischeren Mitteln. Er nimmt sich einen großen Stein, nimmt Maß, und platsch, die Fliege ist nur noch Matsch. Leider auch der Kopf seines Freundes, auf dem die Fliege saß.
Jean de la Fontaine sagt es poetischer:
„Gesagt, getan: es packte der treue Fliegenwedel
einen Pflasterstein und warf ihn – hui –
die Fliege tötend, dem Mann auf den Schädel;
ein guter Schütze, doch ein schlechter Denker,
ward er dem Schläfer jäh zum Henker.
Gefährlich ist ein dummer Freund;
weit besser ist ein weiser Feind.“
Wie ich darauf kam? Die Antwort findet sich in meiner Antwort, die ich der Kundin gab:
Denn jetzt konnte ich sie beantworten, nämlich mit einem klaren Nein. Weil das, was in der Hundeschule praktiziert wurde, ein Mischmasch war aus beiden oben genannten Erziehungsarten. Zumindest insofern ein Mischmasch, da der tatsächlich praktizierte Erziehungsversuch die erstgenannte Art, das angestrebte Ziel jedoch das der zweiten war. Denn die Kundin hatte schließlich nicht verlangt, ihren Hund fit zu machen für das konfliktfreie Zusammenleben mit dem „Therapiehund“ der Hundetrainerin, sondern doch wohl eher für ein alltagstaugliches und entspanntes Zusammenleben mit seinem Frauchen und ihren sozialen und sonstigen Kontakten.
Und ein solcher Mischmach ist zum Scheitern verurteil. Denn der in diesem konkreten Fall tatsächlich praktizierte Erziehungsversuch mithilfe des sogenannten Therapiehundes konnte nur darauf abzielen, im besten Fall den Hund der Kundin dazu zu bringen, sein aggressives Verhalten dem „Therapiehund“ gegenüber abzulegen und sich ihm unterzuordnen. Unter bestimmten Umständen, insbesondere wenn der „Therapiehund“ über ausreichend Selbstbewusstsein verfügt, ist dies sogar von Erfolg gekrönt (und war es wohl auch), weil der Unterlegene die Überlegenheit des anderen akzeptiert und in eine Art Meideverhalten flüchtet. Vergleichbar mit einem hierarchischen Verhalten innerhalb eines Rudels. Allerdings betrifft dies in diesem konkreten Fall nur die durch Dominanz geprägte Beziehung dieser beiden Hunde untereinander.
Und damit sind wir beim Problem und dem Grund, warum der Besuch der Kundin bei der Hundeschule letztendlich erfolglos bleiben musste, auch wenn der erste Anschein zunächst etwas anderes vermuten ließ. (Ich bin auf dieses Problem übrigens auch in meinem Buch im Kapitel Die Absurdität einer „Rudeltherapie“ eingegangen und habe das Scheitern ausführlich begründet.)
Das, was die Kundin mit ihrem Hundeschulbesuch anstrebte, war ja nicht, ihren „Aggressor“ in Zukunft mit dem „Therapiehund“ der Hundetrainerin friedlich zusammenleben zu lassen. Dummerweise ist das aber das Einzige, was man mit dem Zusammenführen zweier Hunde erreichen kann. Das hat aber mit dem, was die Kundin von der Hundetrainerin erwartete, nichts zu tun. Denn sie sollte vielmehr ihren „Aggressor“ von seinen „Verhaltensauffälligkeiten“ befreien. Und das wäre seine intraspezifische, interspezifisch und umweltspezifische Sozialisation gewesen.
Wie eine solche Sozialisation bzw. Erziehung erfolgt, habe ich bekanntlich schon in vielen Beiträgen beschrieben. Deshalb an dieser Stelle nur eine Kurzfassung, um meine Antwort, die ich der Kundin gegeben habe, zu begründen:
Eine Sozialisation kann nur erreicht werden, wenn dem Hund der Grund für sein unerwünschtes Verhalten genommen wird. Und dieser Grund findet sich in seiner Verantwortung für die Sicherheit, sowohl für seine eigene als auch für die von Frauchen oder irgendeiner sonstigen ihm übertragenen Ressource wie beispielsweise Haus und Hof oder Kind und Kegel. Eine solche Verantwortung übernimmt ein Hund in der Regel von sich aus, weil dies bereits in seinen Veranlagungen durch die über 30 000 Jahre erfolgte Domestikation angelegt ist, denn seine eigene Sicherheit zählt zu seinen drei Grundbedürfnissen, die er stets und ständig befriedigt wissen will. Und zur Wahrnehmung dieser Verantwortung bedient er sich zweier Methoden: Zum einen der ständigen Aufklärung des Reviers, in dem sich Frauchen mit ihm aufhält, und zum anderen der Abwehr jeglicher Konkurrenten, Feinde oder Gefahren. Aus Ersterem resultiert sein Zerren an der Leine, weil er das Revier bereits weit voraus unter Kontrolle haben will, und aus Letzterem seine Aggressionen gegenüber allem und jedem.
Das heißt also, eine Erziehung im Sinne der zweitgenannten Art ist nichts anderes, als den Hund von seiner Verantwortung zu entbinden und ihm jeglichen diesbezüglichen Entscheidungsspielraum zu nehmen. Dazu muss einerseits Frauchen statt seiner diese Verantwortung übernehmen und ihm dies auch demonstrieren und andererseits jegliches unerwünschte Verhalten, das sich aus seiner Verantwortung ableitet, energisch korrigieren und damit unterbinden.
Das besonders Makabre an dem hier geschilderten Fall ist, dass die von der Hundetrainerin praktizierte Zusammenführung der beiden Protagonisten das genaue Gegenteil von dem bewirkte, was ich gerade als Ziel der Sozialisierung beschrieben habe. Sie tat quasi das Gleiche, was der Bär seinem schlafenden Freund angetan hatte. Denn mit der Konfrontation des „Aggressors“ mit dem „Therapiehund“, bei dem sicherlich der zu Erziehende losgeleint in die Begegnung mit dem anderen geschickt wurde, hat sie ihm die Eigenverantwortung für seine Sicherheit nicht nur nicht genommen – was eigentlich das Ziel einer Erziehung hätte sein müssen – sondern im Gegenteil, sogar noch einmal bewusst übertragen. Metaphorisch und etwas zugespitzt könnte man sogar sagen, Frauchen gab ihm den Befehl: „Los, verteidige uns beide, ich bin zu feige!“
Mit anderen Worten: Grober Unfug! Und ein Bärendienst, den die Hundetrainerin der Kundin erwiesen hat.
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