oder
eine weitere Falle des Anthropomorphismus?

Beim Besuch einer meiner letzten Kundinnen, die einen „verhaltensauffälligen“ Terrier ihr Eigen nannte und mich zwecks „Therapie“ um Hilfe bat, hörte ich bereits bei meiner Ankunft hinter der Haustür ein „vielversprechendes“ und mit eindeutigen Botschaften versehenes Bellen. Ich sah mich deshalb veranlasst, die Hundehalterin, bevor sie sich anschickte, die Tür zu öffnen, von draußen laut rufend mit der Frage, ob sie ihn auch im Griff habe, dazu zu bewegen, ihn doch bitte anzuleinen.

Auch wenn mein Unterarm mittlerweile, wie mein kleiner Sohn es bewundernd einmal feststellte, doch von den vielen Beißattacken schon aus Eisen sein müsse, gibt es für mich angenehmere Willkommensrituale als stets in den Arm gebissen zu werden.

„Keine Angst, der tut nichts, der will Sie nur begrüßen!“ war ihre mir offensichtlich Mut zusprechen beabsichtigte Antwort.

Aber noch bevor ich ihr ihren Irrtum erklären konnte und sie auch nicht meiner zuvor indirekt geäußerten Bitte nachgekommen war, öffnete sie die Tür.

Nachdem ich mich dann, wie Sie erahnen können, von dem mir am Arm hängenden Terrier befreit hatte, sah ich mich veranlasst, der vor Entsetzen zuvor erstarrten, sich aber wieder erholten Dame, einen Kurzvortrag über die angeblichen „Begrüßungsrituale“ eines Hundes zu halten. Und ich war auch diesmal – mit dem Wissen über den Anthropomorphismus ausgestattet – davon überzeugt, dass die gute Frau mir sicherlich nicht glauben würde, wenn ich ihr einfach nur erklären wollte, dass Hunde niemals jemanden begrüßen. Denn sie kennen keine Begrüßungsrituale wie man sie ihnen immer wieder unterstellt. Zumindest nicht in dem Sinne, wie der Mensch sie sich in seiner anthropomorphisierenden Imagination ausmalt.

Also bleibt mir in solchen Fällen nur übrig, anhand der Geschichte des menschlichen Begrüßungsrituals nachzuweisen, dass Hunde ein solches nicht kennen können, da es dafür der Entwicklungsgeschichte des Menschen bedurfte:

Wie das Leben so spielt, kommt mir in diesem Jahr für eine solche Erklärung ein Ereignis am 21. November zu Hilfe. Dann ist nämlich der „Welt-Hallo-Tag“. Die Erfinder verfolgen damit die Absicht, die Kommunikation und den Frieden zwischen den Völkern zu fördern. Im Rahmen dessen erklären sie die vielen unterschiedlichen Begrüßungsrituale, die es weltweit gibt. Angefangen beim vorwiegend in westlichen Ländern üblichen Händeschütteln, welches in asiatischen Ländern eher als unhöflich gilt, über den Handkuss oder dem sogenannten Proseccoküsschen des angedeuteten Wangenkusses links und rechts am Ohr seines Gegenüber vorbei; das Händeklatschen über die Freude eines ankommenden Gastes, bis hin zum asiatischen Verbeugen ohne dem Gegenüber in die Augen zu schauen, denn das wäre wiederum unhöflich; oder dem traditionellen Gruß der Maori, dem Hongi, bei dem sich beide mit der Stirn und Nase berühren, um ihren Atem auszutauschen; oder dem in vielen Volksgruppen üblichen Umarmen. Und nicht zu vergessen, die früher übliche Pflicht, heute aber nur noch selten zu sehen, zum Lüften des Hutes auf der dem Gegenüber abgewandten Seite, um wie zu Zeiten der Ritter seinen Helm abzunehmen und damit sein Gesicht zu zeigen und seine friedliche Absicht zu signalisieren. Kurzum, dem Menschen ist es halt eigen, einem Neuankömmling mit einem freundlich gesinnten Begrüßungsritual zu begegnen.

In unserem hiesigen Kontext ist aber die Geschichte dahinter und insbesondere der Wandel dieses Rituals von Interesse. Denn der Ursprung des Grüßens, wie auch die unterschiedlichen Grußrituale, werden hergeleitet aus den nicht sehr friedlichen Epochen des menschlichen Daseins. So sollten in einer von Konflikten geprägten Zeit unnötige Streitereien schlichtweg vermieden werden, indem die sich Begegnenden einander durch eine Grußgebärde ihrer friedlichen Absicht versicherten. So entstand das Reichen der rechten Hand als diejenige, die ansonsten die Waffen trug.

Allerdings hat sich durch den Wandel des Zusammenlebens hin zu einem überwiegend friedlichen dieses Begrüßungsritual ebenso gewandelt zu einer oftmals reinen Geste der Höflichkeit, welches nicht selten gepaart ist mit dem Gefühl und dem Ausdruck von Freude über den Neuankömmling. Die prähistorisch notwendig gewesene Absicht des Schlichtens oder Vermeidens von Konflikten war somit nicht mehr gegeben, auch wenn die Vorstellung von einer überwiegend friedlichen Welt in heutiger Zeit, die von vielen Konflikten und Kriegen geprägt ist, schwerfällt. Trotzdem, insgesamt ist die menschliche Welt nun einmal tatsächlich friedlicher geworden.

Und damit sind wir bei unserem „Problem“:

Der Hund kennt ein sich so gewandeltes Begrüßungsritual nicht. Ihm haftet immer noch der Urinstinkt seines Urvaters, des Wolfes an, der sich in den mehr als 30.000 Jahren seiner Domestikation eher noch verstärkt hat als abgeschwächt, geschweige denn gewandelt. Denn nicht nur die ersten Wölfe, die in menschlicher Gemeinschaft lebten, hatten die Aufgabe, unliebsame Gesellen fernzuhalten. Viele spätere Zuchtlinien von Hunden selektierten und verstärkten gerade diese Anlagen. Somit hat sich das dem Hund von seinem wölfischen Urvater vererbte Verhalten beim Begegnen mit seinesgleichen oder anderen Mitglieder der Faune weitestgehend erhalten. Selbst bei Mitgliedern des eigenen Rudels einer Wolfsfamilie, die sich doch eigentlich recht gut kennen sollten, werden sogar Wiederankömmlinge, die von einem Jagdausflug zum Rudel heimkehren, von einer Abordnung weit vor der Unterkunft aufklärerisch „begrüßt“, indem ihre sich eventuell inzwischen geänderten Absichten eruiert werden. Und zum Zeichen der eigenen friedlichen Gestimmtheit werden sich gegenseitig die Lefzen geleckt und unterwürfige Signale ausgesandt.

Mit anderen Worten, das vermeintliche Begrüßungsritual des Hundes einem Neuankömmling oder Heimkehrenden gegenüber ist nichts anderes als seine Aufklärungsabsicht, was dieser wohl im Schilde führt. Selbst – und das ist für so manch eine meiner Kundinnen eine schwer zu „verdauende Kröte“ – wenn Frauchen am Abend von der Arbeit heimkommt, ist das, was ihr Hund dann zelebriert, nichts anderes als das Resultat seiner Neugierde, wissen zu wollen, ob Frauchen auch jetzt noch so friedlich gestimmt ist wie sie es war, als sie ihn morgens verließ. Und das wilde Rutenwedeln ist mitnichten, wie oftmals vermutet, ein Ausdruck von Freude, sondern ein zweifelsfreies Indiz für seine Unsicherheit bezüglich der folgenden Geschehnisse. Diese Unsicherheit muss nicht negativ belegt sein. Man kann sie auch als Neugierde bezeichnen oder Interesse daran, wie sich die Situation weiter entwickeln mag.

Dass ein solches Ritual durchaus mit dem Gefühl von Freude korrelieren kann, steht außer Frage. Aber es ist falsch, anzunehmen, dass das Wedeln mit der Rute durch das Gefühl von Freude ausgelöst werde. Das Rutenwedeln ist ausschließlich durch seine Unsicherheit ob der weiteren Entwicklung der Situation determiniert. Denn warum sollte ihm urplötzlich seine Freude abhandenkommen, sowie Frauchen ein eindeutiges Signal ihrer friedlichen Gestimmtheit aussendet.

Und damit kommen wir zu dem, was sich aus diesen Erkenntnissen für die Hundeerziehung ableitet:

Wenn ein Hund einem Neuankömmling gegenüber ein solches „Interesse“ zeigt wie der Terrier in dem eingangs geschilderten Fall mir gegenüber, ist es nichts anderes als die Manifestation einer dem Hund von Frauchen übertragenen Verantwortung. Diese beinhaltet in der Regel, für die eigene Sicherheit selbst sorgen zu müssen oder auch für die von Frauchen oder irgendeiner Ressource wie beispielsweise Haus und Hof.

Und wenn dann sein Verhalten, was objektiv betrachtet nichts anderes ist, als das Wahrnehmen dieser ihm übertragenen Verantwortung – also ein absolut natürliches – als auffällig oder störend interpretiert wird, ist es für mich wiederum ein Indiz dafür, dass ihm diese Verantwortung nicht bewusst oder willentlich übertragen wurde, sondern eher unbewusst oder unwillentlich. Denn ansonsten wäre Frauchen ja bewusst, dass sein Verhalten völlig normal ist und seinem natürlichen agonistischen Verhaltensrepertoire zugerechnet werden muss.

Insofern besteht auch hier der „Therapieansatz“ darin, wenn ein solches „Begrüßungsritual“ als störend empfunden wird – was nicht zwangsläufig der Fall sein muss, wenn wir an Wach- und Schutzhunde denken – den Hund von seiner Verantwortung zu entbinden. Und man wird sehen, wenn er keine Verantwortung mehr trägt, wird er auch keinerlei Interesse mehr an einem Neuankömmling demonstrieren. Denn er weiß ja, dass Frauchen dieser Aufklärungspflicht nachkommt.

Aber bitte geraten Sie jetzt nicht gleich in Panik, wenn Ihr Hund einem Neuankömmling gegenüber Interesse zeigt. Solange er ihm nicht in den Arm beißt, oder es niemanden stört, ist die Welt ja in Ordnung. Sie sollten aber wissen, wenn er ihm entgegenläuft und nicht Sie als erstes den Gast begrüßen, sondern er, dass dies ein Indiz für seine ihm von Ihnen übertragene Verantwortung ist.