oder
die Metapher einer Skigruppe.
Wenn ich meinen Kunden, die mit einem verhaltensauffälligen Hund zu mir kommen, die Wichtigkeit einer intakten Rangordnung in ihrem “Rudel” Familie für eine erfolgreiche Therapie vermitteln will, stoße ich oftmals auf ein zögerliches Verständnis. Weniger ob ihrer Wichtigkeit, sondern vielmehr hinsichtlich der Botschaft, die der Begriff Rangordnung offensichtlich vermittelt. Diese Begrifflichkeit ist negativ belegt und vermittelt eine Vorstellung von Unterdrückung des Tieres verbunden vielleicht sogar mit Zwang oder gar Gewalt. Befördert werden solche falschen Vorstellungen u.a. durch Begrifflichkeiten wie “Rangreduktion” als Therapiemethode. Hierzu gibt es auch relativ junge wissenschaftliche Erkenntnisse, die endlich Schluss machen mit dem Klischee des angeblichen Dominanzstrebens des Hundes.
Die Rangordnung bildet sich nicht durch Gewalt heraus
In Wirklichkeit hat die Entwicklung einer Rangordnung aber nur selten etwas mit Zwang geschweige denn Gewalt zu tun. Zugegeben, ein selbstbewusster Hund wird auch hier und da einmal ein Verhalten an den Tag legen, welches den Anschein erweckt, er versuche, seine Position in der Rangfolge der Familie zu „hinterfragen“. Aber das ist meistens nur eine natürliche Reaktion auf die “Schwäche” der “Eltern”, also des Menschen, der nicht ausreichend das Vertrauensverhältnis zwischen beiden rechtfertigt. Und in der Natur gibt es auch einmal in einem Rudel ein paar Scharmützel, wenn zwei gleich selbstbewusste, intelligente und entscheidungsfreudige Helden aufeinander treffen und um eine Führungsposition konkurrieren.
Ein schwacher “Elternteil” ist das Problem
Ärger gibt es immer dann, wenn derjenige, der eine Führungsrolle einnehmen will, die dafür notwendigen Persönlichkeitskriterien oder die damit verbundenen Pflichten gar nicht erfüllt. Eine solche Witzfigur findet aber bei den “Rudelmitgliedern” keine wirkliche Akzeptanz und wird früher oder später zum Teufel gejagt. Und deshalb wird das Ganze problematisch, wenn der Mensch im Rudel Familie die “Elternschaft” zwar übernehmen will – was er übrigens auch zwingend tun sollte, um konfliktfrei mit dem Hund zusammenleben zu können, denn dieser ist durch die Domestikation zu einem willentlichen Befehlsempfänger geworden – aber diese Führerschaft nicht tatsächlich ausfüllt. Und dazu zählt in besonderem Maße die Gewährleistung der Bedürfnisbefriedigung des Hundes nach Sicherheit.
In jeder Gruppe Gleichartiger bildet sich eine Struktur
In der Regel ist die Struktur in einem Rudel aber vielmehr das Ergebnis eines relativ unspektakulär ablaufenden Entwicklungsprozesses, der im Einvernehmen aller Rudelmitglieder und weitestgehend ohne Zwang erfolgt. Denn das Rudel hat sich im Rahmen der Evolution nicht aus Jux und Tollerei entwickelt, sondern weil es die erfolgreichste Organisationsform im Überlebenskampf gleichartiger Wesen ist. Ein Rudel und die sich dabei herausbildende Struktur liegt also in ihrem ureigensten Interesse, ähnlich der Entwicklung, die sich beispielsweise in einer Skigruppe vollzieht, wenn sich Freunde oder Bekannte, die so etwas noch nie praktiziert haben, entschließen, gemeinsam eine Skitour zu unternehmen.
Die Metapher von einer Skigruppe
Stelle man sich die Situation einmal vor, wie sie sich entwickelt, wenn diese Gruppe von Menschen an der Bergstation aussteigt und nach und nach jedes Gruppenmitglied ihre Ausrüstung angelegt hat und nun bereit ist zum Starten. Und zu allem „Unglück“ wurden zuvor keinerlei Absprachen für das Realisieren des gemeinsamen Unterfangens getroffen. Das einzige, was sie alle vereint, sind ihre Grundbedürfnisse. Und dazu zählt in erster Linie das sichere und verletzungsfreie Erreichen der Talstation.
Als erstes hört man jetzt sicherlich von einigen die Frage: „So, wo geht’s nun lang?“ Jetzt drucksen die meisten für kurze Momente rum und geben zögerlich nacheinander ihre Ideen preis. Manche sagen aber auch gar nichts. Schnell wird klar, dass es zwar die ein oder andere scheinbar gute Idee gibt, aber nur wenig Übereinstimmung. Das ganze dauert eine Weile und droht sogar in Erstarrung zu enden, bis schließlich einer der Gruppenmitglieder in einer offensichtlich überzeugenden Art und Weise sagt, wo es lang zu gehen hat. Selbst wenn es noch einige alternative Versuche einzelner Rudelmitglieder gibt, wird sich die Mehrheit dem überzeugend Wirkenden anschließen, obwohl in diesem Moment, wenn man sie fragen würde, kaum jemand rational begründen könnte, warum.
Aber hierfür gibt es eine plausible Erklärung: Da alle Gruppenmitglieder ein und das selbe Ziel haben und dabei ihre gleichartigen Bedürfnisse befriedigt sehen wollen, werden alle demjenigen folgen, der ein paar wichtige Kriterien erfüllt, die den Eindruck hinterlassen, dadurch ihre Bedürfnisbefriedigung am wahrscheinlichsten realisiert zu sehen. Allerdings kann dieser Eindruck bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich subjektiven Charakter haben. Denn eine rational begründete Zustimmung könnte ja jetzt noch niemand geben, da dafür bereits überprüfbare Erfolge seiner Entscheidung vorliegen müssten. Über diese Kenntnisse verfügt aber noch niemand, wenn alle zuvor noch keine gemeinsame Skitour absolviert haben. Also muss etwas anderes ausschlaggebend sein.
Die Bedeutung der Persönlichkeitsmerkmale für eine Leitfigur
Und das sind seine Persönlichkeitsmerkmale: Nämlich seine Entscheidungsfreude – im wahrsten Sinne des Wortes, Freude am Treffen von Entscheidungen zu haben – ; sein selbstbewusstes und selbstsicheres Auftreten und Vorbringen seines Vorschlages in einer Art und Weise, die keinen Zweifel an seiner eigenen Überzeugtheit von der Richtigkeit zulassen und diesen dadurch schon nicht mehr als Vorschlag erscheinen lässt, sondern eher als eine Anweisung; und sein Mut, Entscheidungen zu treffen verbunden mit der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen für die Gewährleistung der Bedürfnisbefriedigung aller Gruppenmitglieder.
Die unterschätzte Konsequenz einer Führungsposition
Aber was oftmals vergessen oder unterschätzt wird, ist seine Bereitschaft, den Stress auf sich zu nehmen, der mit der Übernahme der Führungsrolle einhergeht. Denn diese ist nicht nur mit dem Privileg der größten Entscheidungsbefugnis verbunden, sondern in einem weit unterschätzten Potential an psychischer Belastung bis hin zum puren Stress. Das ist auch der Grund, warum die meisten Gruppenmitglieder heil froh sind, dass jemand die Führung, und damit verbunden die Verantwortung und den Ärger, übernimmt. Denn so können sie sich den puren Luxus eines völlig entspannten und stressfreien Hinterherfahrens gönnen.
Wenn ich meinen Kunden diese Metapher erzählt habe, leuchtet ihnen in der Regel sofort ein, dass es für ihren Hund ausnahmslos nur Vorteile hat, sich der Führung des Menschen unterzuordnen. Diese vom Hund selbst getroffene Entscheidung stellt sich für ihn jedenfalls auf gar keinen Fall als Zwang dar.
104. Warum Hundetrainer oftmals bei der Erziehung versagen
oder Wie könnte Sokrates ihnen helfen, die Ursachen ihres Scheiterns selbst zu erkennen? (Des angenehmeren Lesens wegen verzichte ich auf eine...
103. „Positive Bestärkung“ und andere Irrtümer der Hundeerziehung
oder Was kann eine Konditionierung überhaupt bewirken? Gibt man bei Google den Suchbegriff Hundeerziehung ein, um nach Empfehlungen Ausschau zu...
102. Freut sich ein Hund auf den Besuch eines Hundespielplatzes?
Oder anders gefragt: Ist es möglich, jemanden vom Gegenteil zu überzeugen, wovon dieser überzeugt zu seien scheint? Um die Antwort auf letztgenannte...