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Warum hat der Mensch Angst vor einem Irrtum?

Warum stößt beispielsweise meine Aussage, dass Hunde in einer einzigen Trainingseinheit erzogen werden könnten, auf massive Ablehnung? Oder es kommt zu einem regelrechten Sturm der Entrüstung, wenn ich behaupte, dass Hunde, wenn sie erzogen sind, keinerlei Interesse mehr an der Begegnung mit anderen Hunden hätten, im Gegenteil, ein regelrechtes Desinteresse zeigen.

Ich hatte zu diesem Phänomen der Ablehnung ein interessantes Gespräch mit einem Piloten und Experten aus der Luftfahrtbranche, der mir dazu eine verblüffende Erklärung gab, und zwar aus Sicht der Neurowissenschaften:

In der Luftfahrt befasse man sich nämlich schon seit langem im Rahmen eines Forschungs- und Schulungs-Projektes, das sich „Human-Factors“ (menschliche Faktoren) nennt, mit den Ursachen menschlichen Fehlverhaltens. Das Ziel bestehe darin, nicht nur die Ursachen eines Unfalles oder Vorkommnisses zu klären, sondern daraus ableitend Fehlervermeidungsstrategien zu entwickeln. Dabei gehe man u.a. der Frage nach: Warum passieren dem Menschen Fehler? Und im Rahmen dessen sei man auf interessante Erkenntnisse gestoßen zum “Umgang” des Gehirns mit eigenen Fehlern – oder anders gefragt: Verfügt das Gehirn über ein eigenes Fehlermanagement, wie funktioniert dies und welche Folgen hat dies für das menschliche Handeln?

Die Evolution hat den Menschen bekanntlich zur erfolgreichsten Spezies werden lassen. Der Mensch ist quasi ihre Erfolgsstory. Keine andere Spezies hat sich derart flexibel an ungünstige und sich stets ändernde Lebensräume angepasst und diese dadurch erfolgreich erobert. Dabei spielte das Gehirn die entscheidende Rolle.

Eine der wichtigsten Aufgaben, die dem Gehirn dabei zugekommen ist, ist die Motivierung seines “Chefs”, ihn ständig und stets nach Neuem streben zu lassen, um so die Grundvoraussetzung für seine Weiterentwicklung zu schaffen. Denn sie ist wiederum die Voraussetzung für eine mögliche Anpassung. Stagnation wäre gleichbedeutend gewesen mit seinem Untergang. Und damit der Mensch stets nach Neuem strebt, hat die Evolution sich die Neugierde einfallen lassen.

Diese Neugierde ist das Ergebnis eines Tricks der Evolution, genannt Belohnungssystem. Es ist in seiner Wirksamkeit ähnlich wie die der Drogen, nach denen der Abhängige süchtig wird. Die dabei aktivierten Stoffe werden deshalb auch endogene (körpereigene) Opioide genannt, denn sie sind in ihrer chemischen Zusammensetzung tatsächlich dem Opium ähnlich. Sie werden vom Gehirn dann aktiviert und führen zu den gleichen angenehmen Gefühlen wie auch der Fixer sie kennt, wenn bestimmte Bereiche des Gehirns Neurotransmitter wie Dopamin oder Oxytocin produzieren.

Nun musste sich die Evolution nur noch einfallen lassen, wann es denn Sinn macht, solche endogenen Opioide zu aktivieren, damit sie auch den gewünschten Effekt erzielen. Und das tun sie dann, wenn das Ergebnis einer Handlung besser ist als die Erwartung; also immer dann, wenn der Mensch mit dem, was er getan hat, erfolgreich war. Und umso größer der Abstand zwischen erreichtem Ergebnis und vorheriger Erwartung sich darstellt, desto intensiver verschafft das Gehirn sich quasi selbst eine Belohnung. Man könnte auch sagen, der Mensch sei süchtig nach endogenen Opioiden und strebe deshalb nach Neuem, infolgedessen er sich weiterentwickelt.

Aber wie vieles in der Natur, hat auch diese evolutionäre Erfindung eine dumme Kehrseite. Und die sieht so aus, dass der Mensch das Gegenteil des Erfolges ganz und gar nicht mag, nämlich den Misserfolg. Will heißen, er scheut Niederlagen oder Enttäuschungen und Irrtümer wie der Teufel das Weihwasser. Wenn quasi das Ergebnis seines Handelns unterhalb der Erwartung oder hinter ihr zurückbleibt. Der Extremfall ist der, bei der das Ergebnis genau das Gegenteil von dem ist, was eigentlich erwartet wurde. Und das Gefühl wird dann umso grässlicher, je mehr der Irrende in den Irrtum investiert hat. Sei es Mühe, Geld, Zeit oder sonstiger Aufwand. Wissenschaftler können ganze Bücher darüber schreiben, wie sie sich verbissen an eigentlich längst aufzugebende Thesen klammern, obwohl der Verstand schon lange sagt, dass es ein Irrtum sei. Deshalb gibt es in der wissenschaftlichen Arbeit das Kriterium der Falsifikation. Sie verlangt, dass nach Aufstellung einer These immer zunächst der Versuch ihrer Widerlegung gemacht werden soll und nicht nach Bestätigungen gesucht wird. Weil der Mensch sich halt zu gerne in eine schön und logisch klingende These verliebt und sich dann außerordentlich schwer tut, bei Gegensignalen kritisch zu bleiben. Und ähnlich wie sich der Abstand zwischen Erwartung und Ergebnis auf die Intensität des Glücksgefühls auswirkt bis hin zur Euphorie, quält das Gegenteil den Irrenden umso mehr, je größer die Konsequenzen aus dem Irrtum sind oder je intensiver er zuvor seinen Aufwand für die Erlangung seiner falschen These betrieben hat.

Das treibt bekanntlich Blüten, die jeder Leser mit Sicherheit kennt: Selbst wenn der Verstand schon zweifelt, klammert sich der Wille noch lange an die Lüge. Denn er will die Gefühle des Irrtums, der Enttäuschung oder gar der Angst, die mit der neuen Erkenntnis vielleicht verbunden sind, so lange wie möglich hinauszögern. Und das, obwohl es rational viel vorteilhafter wäre, sich mit der neuen Erkenntnis schnellstmöglich auseinanderzusetzen.

Piloten, so der Experte, würden dieses Phänomen des Klammerns an die falsche Wahrheit noch sehr gut aus der Zeit kennen, als es noch kein GPS und ähnlich moderne Navigationssysteme gab. Als sie sich noch anhand von Karte und Kompass orientieren und ihr Ziel finden mussten. So fürchteten sie beispielsweise, ähnlich wie der Teufel das erwähnte Wasser, nichts so sehr wie einen Orientierungsverlust und die damit einhergehenden Konsequenzen. Wenn sie sich dann verflogen hatten und die Darstellung der Natur auf ihrer Karte mit der realen Welt verglichen und beides stimmte nicht wirklich überein, kam Unruhe auf, die ein Vorbote der Panik war. Und obwohl der Verstand sagte, „Du, wir haben uns verflogen und sollten uns schleunigst auf die Suche nach einem Ausweg machen“, kam es zu solch irrwitzigen Reaktionen des Willens, dass Seen und Flüsse da unten, die auf der Karte völlig anders aussahen oder gar nicht da waren, so lange uminterpretiert wurden, bis sie „richtig“ aussahen. Denn das sich Eingestehen des Irrtums wäre ein schrecklich hässliches Gefühl.

Man kann auch sagen, dass der Mensch hier ein angeborenes Meideverhalten an den Tag legt, um dem widerlichen Gefühl des Sich-geirrt-Habens aus dem Wege zu gehen.

„Und nun“, sagte der Luftfahrtexperte zu mir, „stelle man sich einmal folgende Situation vor:

Der Irrende würde sich seinen Lebenstraum erfüllt und eine Hundeschule eröffnet haben. Um die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, hätte er all sein Hab und Gut in seine eigene Ausbildung und Qualifikation investiert, hätte sich Wissen angeeignet, wo er nur konnte, hätte an allen möglichen Lehrgängen und Seminaren teilgenommen und schließlich und endlich mit viel Aufwand und Mühen, verbunden wahrscheinlich auch mit erheblichen Kosten, seiner Einschätzung nach alle notwendigen Kenntnisse für eine erfolgreiche Führung seiner Schule zur Ausbildung und Erziehung von Hunden erlangt. Dann habe er sich noch ein Marketingkonzept einfallen lassen, wie man Hundebesitzer dazu animieren könnte, nicht nur zu ihm in seine Hundeschule zu kommen, sondern dies auch noch möglichst häufig und immer wieder zu tun. Denn, wie er sich ausgemalt haben könnte, sei der Stammkunde der zahlungsfreudigste. Also lässt er sich einige sogenannte Kundenbindungsmaßnahmen einfallen wie Zehnerkarten, allsonntägliche Welpentrainings, Raufergruppen oder gemeinsame Rudeltrainings und kollektive Hunde-Gruppen-Wald-Spaziergänge sowie sonstige witzige Hund- und Herrchen-Frauchen-Treffen. Und damit der brave Hundeschulbesucher nicht irgendwann Lust und Laune verliere oder meine, dass es ihm jetzt doch langsam zu teuer werde oder gar Zweifel an der Erfolgsaussicht dieser mittlerweile sehr lang andauernden aber nicht wirklich erfolgreichen Schulungsmaßnahmen hege, müsse ihm nur noch überzeugend klar gemacht werden, dass die Hundeerziehung ein sehr komplexer und damit ein sehr komplizierter und deshalb eben vor allem lang andauernder Prozess sei. Voraussetzung, dass der Irrende dabei aber kein schlechtes Gewissen bekäme, ist allerdings seine eigene Überzeugtheit von der Richtigkeit seiner Theorie, sprich These. Denn wir reden hier nicht von einem Hundeschulbetreiber, dem seine Irrtümer bewusst sind, denn dann müssten wir ja von Schwindel, Betrug oder arglistiger Täuschung sprechen. Adäquat wie wir in der Luftfahrt im Rahmen der Human-Factors-Forschung nicht die Fehler untersuchen und analysieren, die jemand bewusst macht. Sondern wir befassen uns ausschließlich mit den Fehlern, die jemandem passieren, ohne dass derjenige, dem sie passieren, es wollte, dass sie ihm passieren.

Mit anderen Worten: Der Irrende sei zutiefst von der Richtigkeit dessen, was er weiß und was er tut, überzeugt. Nichts auf dieser Welt könnte ihn vom Gegenteil überzeugen, denn er habe schließlich einen riesigen Aufwand betrieben, um sich dieses Wissen mühsam anzueignen und darauf sogar seine Existenz aufgebaut.

Aber nun, nehmen wir einmal an, geschehe für ihn etwas völlig katastrophal Unerwartetes, was das Kartenhaus des Wissens und der Überzeugungen urplötzlich drohe einstürzen zu lassen: Es käme ein Klugscheißer um die Ecke, der behaupten würde: ‚Es ist alles ein Irrtum!‘

Was würde jetzt wohl im Gehirn des Irrenden im Rahmen des endogenen Fehlermanagements ablaufen? Kann man sich in etwa vorstellen, welch eine riesige Enttäuschung es bedeuten würde, verbunden mit der Angst vor all den Konsequenzen, wenn das stimmen sollte, was der Klugscheißer da sagt?

Also wehrt sich der Wille mit Händen und Füßen vor diesem furchtbaren Irrtum. Und das führt in manchen Fällen, wenn der Irrtum fundamental ist, sogar zu drastischen Reaktionen bis hin zum Angreifen oder sogar versuchten Vernichten des Klugscheißers. Schon im alten Griechenland wurde der Überbringer der schlechten Nachricht bestraft und im Mittelalter wurde er geköpft. Bei Konfuzius kann man lesen ‚Ein Mann, der die Wahrheit spricht, braucht ein schnelles Pferd.‘ Daran hat sich bis heute nichts geändert.“

Wenn stattdessen der gesunde Menschenverstand die Oberhand im Krisen- oder Fehlermanagement behalten würde, wären die Folgen eines Irrtums wesentlich harmloser. Die bis zum Eingeständnis des Irrtums verstrichene und wertvolle Zeit hätte inzwischen in eine effektive und effiziente Lösungssuche investiert werden können. Und damit wäre allen Beteiligten geholfen, in unserem Falle Hund und Herrchen oder Frauchen, die nicht mehr durch ein zermürbendes und zeitaufwendiges und obendrein noch erfolgloses Martyrium an Ausbildungsmaßnahmen, die zur Erziehung eines Hundes ungeeignet sind, gehen müssten. Methoden der Ausbildung, die hier durchaus ihre Berechtigung haben, aber im Rahmen der Erziehung ungeeignet sind, führen nicht nur zu sehr viel Frust und finanziellem Aufwand auf Seiten der Hundebesitzer(innen), sondern führen im schlimmsten Fall zu vermeidbarem und unnötigem Stress bei den Hunden. Oder sie führen sogar dazu, dass aufgrund der Erfolglosigkeit diesen Tieren das Tierheim oder schlimmeres droht.

Selbst wenn sich die neue These als falsch erweisen sollte, lohnt es doch des Aufwandes der Auseinandersetzung, anstatt immer wieder die alte These mit der Vorstellung, „Was nicht sein darf, nicht sein kann“, zu verteidigen. Ich finde, wir sind diesen Aufwand und diese Ehrlichkeit der Kreatur Hund schuldig.