oder

der Kampf zwischen Intuition und Ratio

„Ich frage mich, was diese ganze Theorie der Hundeerziehung eigentlich soll. Der eine predigt dies und der andere predigt jenes. Und alle meinen, sie hätten Recht. …Ich mach‘ das lieber intuitiv.“

So in etwa lauten hin und wieder mal die Reaktionen von HundebesitzerInnen oder auch LeserInnen meiner Beiträge. Und ich gehe davon aus, sie würden nicht so reagieren, wenn sie nicht zumindest das Gefühl hätten, damit Erfolg zu haben.

In ähnliche Richtung tendieren auch Äußerungen wie: „Ich verhalte mich dem Hund gegenüber instinktiv immer richtig. Da brauch‘ ich keine Theorie!“

In diesen Fällen stellt sich mir immer die Frage nach der Berechtigung solcher Auffassungen ohne sie gleich in Bausch und Bogen abzulehnen. Ich mache zwar keinen Hehl daraus, eher ein Anhänger wissenschaftlicher oder zumindest durch ausreichende Empirie – also durch methodisch-systematische Sammlung von Daten – bewiesener Kenntnisse zu sein. Aber wenn sich jemand wie oben aus Überzeugung äußert, sollte es doch wenigstens Wert sein, seinen oder ihren Argumenten auf den Grund zu gehen. Vorausgesetzt es gibt sie.

Somit stellt sich die Frage: Was sagt die Theorie oder Lehre zu Meinungen dieser Art? Oder gibt es vielleicht sogar Erkenntnisse aus der Wissenschaft, die die Berechtigung solcher Überzeugungen belegen?

Und siehe da, ein ganzer Wissenschaftszweig befasst sich mit dem Thema „Intuition“ oder allgemeinverständlicher „Bauchgefühl“.

Die Frage lautet also: Macht es mehr Sinn für Herrchen oder Frauchen, einen Hund aus dem Bauchgefühl heraus zu erziehen, oder ist es sinnvoller, ihn nach Methoden, die auf wissenschaftlichen oder empirisch gewonnenen Erkenntnissen basieren, zu einem sozial verträglichen Wesen zu machen?

Die Antwort, die sich aus der Wissenschaft ergibt, wird vielleicht verblüffen: „Sowohl als auch“!

Deshalb zunächst ein kleiner Exkurs in die Erkenntnisse der Psychologie oder Kognitionswissenschaft zum Thema „Intuition“:

Aus der Anzahl der Nervenzellen ergibt sich rein rechnerisch, dass pro Sekunde etwa zehn Millionen Sinneseindrücke auf den Menschen einprasseln. Diese alle bewusst zu verarbeiten, wäre natürlich für unser Gehirn, das nur über sehr eingeschränkte Kapazitäten verfügt, ein Ding der Unmöglichkeit. Gerade mal vierzig davon schafft schätzungsweise unser Arbeitsspeicher. Um aber eine rational begründete Entscheidung zu treffen, wäre jedoch die Verarbeitung von weitaus mehr Informationen notwendig. Die Theorie des sogenannten Homo oeconomicus, dem alle Informationen über seine Handlungsalternativen zur Verfügung stehen und er dann diejenige wählt, die ihm den größten Nutzen bringt, ist ja bekanntlich eine Illusion oder eben nur ein theoretisches Modell. Die vollkommene Information gibt es quasi nicht. Uns fehlen in der Regel sogar die meisten Informationen, um rational richtig zu entscheiden. Abgesehen davon, dass selbst unsere Sinnesorgane nur einen Bruchteil aller möglichen Informationen überhaupt empfangen können, weil sie nur für einen Bruchteil aller möglichen Reize sensibel sind. Und dann reden wir noch gar nicht von der schier unglaublichen Menge an Entscheidungssituationen, vor denen der Mensch und sein Gehirn im alltäglichen Leben stehen.

Mit anderen Worten: Es ist gar nicht möglich, alle Entscheidungen rational zu treffen, weil entweder nicht alle Informationen zur Verfügung stehen oder gar keine Zeit dafür da ist.

Also müssen andere Entscheidungshilfen her. Und dazu zählen Gefühle und Intuitionen. Wie verbreitet das Entscheiden aus dem Bauchgefühl ist, belegen Studien wie z. B. die von Gary Klein, der mit seinem Forscherteam Entscheidungen von Menschen untersucht hat, die unter hohem zeitlichen Druck und einem großen Risiko für Leib und Leben arbeiten. 80 Prozent ihrer Entscheidungen treffen sie demnach intuitiv. Oder die Psychologin Kathy Mosier von der Universität von Kalifornien in San Francisco beobachtete Piloten in schwierigen Situationen im Flugsimulator. „Praktisch keine Zeit wurde damit vergeudet, verschiedene Möglichkeiten zu vergleichen.“

Der Mensch entscheidet und handelt offensichtlich in der überwiegenden Mehrheit der Situationen aus dem Bauch oder nach seinem Gefühl. Das würde er nicht machen, wenn die Evolution ihm nicht Recht gegeben hätte; er also durch dieses Verhalten keinen Überlebensvorteil gehabt hätte. Und wenn wir die eingangs geschilderte Misere zwischen der schier unendlichen Fülle an potentiellen Entscheidungseinflüssen und der sehr begrenzten kognitiven Kapazität und Zeit des Gehirns bedenken, bleibt der Schluss nur übrig, dass es von Vorteil sein muss, überhaupt zu entscheiden und zu handeln als ehrfurchtsvoll zu erstarren.

Allerdings muss es einen Mechanismus geben, der dem Gehirn ermöglicht, die offensichtlich wichtigsten Entscheidungseinflüsse blitzschnell aus der Fülle herauszufiltern. Und diesen Mechanismus gibt es tatsächlich. Er läuft allerdings im Unterbewusstsein ab, auf das das Bewusstsein keinen Einfluss und keinen Einblick hat.

Solche Prozesse werden einem dann besonders bewusst, wenn man in komplexen Entscheidungssituationen eine Entscheidung getroffen hat, über deren Richtigkeit man im Nachhinein selbst erstaunt ist. Und man sich dann fragt: „Wow, wer hat meine Hand denn da geführt?“ Und nicht selten fängt selbst der eingefleischteste Atheist an, in solchen Fällen an Gott zu glauben.

Noch krasser wird die Bedeutung des unbewussten Entscheidens in Gefahrensituationen. Wenn also Gefahr für Leib und Leben im Spiel ist. Dann läuft der Entscheidungsprozess nicht über den zeitaufwändigen oberen Weg über den Cortex, bei dem das Bewusstsein zunächst alle Vor- und Nachteil, Für und Wider gegeneinander abwägt, sondern über den unteren und wesentlich schnelleren, bei der die Amygdala des Limbischen Systems das Kommando übernimmt. Weil jetzt Gefühle im Spiel sind, die die Entscheidung wesentlich mit beeinflussen, geht der Handlungsbefehl unter Ausschluss des Bewusstseins direkt an die ausführenden Organe. Wer kann sich nicht die Situation vorstellen, wenn man abends im Dunkeln durch den Garten geht und beim Wahrnehmen einer Schlange beinahe zu Tode erschrickt und entweder erstarrt oder reflexartig flieht. Erst später sagt der Cortex: „Bleib cool, das war der Gartenschlauch.“ Und der Puls geht wieder runter.

Die Frage ist allerdings, woraus sich die Gefühle oder Intuitionen speisen und auf welcher Grundlage das Unterbewusstsein aus der Fülle der Faktoren die für die Entscheidung offensichtlich wichtigen herausfiltert?

Die Antwort findet sich einerseits im angeborenen, also vererbten, sogenannten Weltwissen und im persönlichen Erfahrungsschatz. Beides sind Entscheidungs- und Wissensquellen, die aus den Erfahrungen unserer Vorfahren gespeist oder im Zuge unseres eigenen Lebens abgespeichert wurden. Und diese Erfahrungen sind in vielen Fällen Ereignisse oder Nuancen von Ereignissen und Zusammenhängen, die uns überhaupt nicht bewusst sind. Die das Gehirn aber vorsorglich abgespeichert hat, um im Bedarfsfall als Entscheidungshilfe in Form eines wiedererkannten Musters zu dienen.

Die Wissenschaft hat für den Wiedererkennungsprozess sogar zwei Regionen im Gehirn ausgemacht, die dafür unter anderem verantwortlich sind: Genannt Corpus Striatum, ein Bestandteil des Großhirns, das Emotionen, Motivation und Denken miteinander verbindet und Anteriorer Cingulärer Cortex, welcher vergangene Erfahrungen mit neuen Eindrücken zusammenfügt. Sie reagieren blitzschnell und sehr zuverlässig, sobald sie ähnliche oder gleiche oder aber auch widersprechende Muster einer Situation erkennen. Beide Regionen sind auch in der Lage, Vorausahnungen zu treffen, sobald sie ähnliche Muster erkennen, die sie in der Vergangenheit registriert und gespeichert haben. Und all das läuft im Unterbewusstsein ab, ohne dass unser Bewusstsein davon etwas mitbekommt.

Aber warum interessiert uns das alles im Zusammenhang mit der Hundeerziehung?

Ganz einfach: Wenn wir meinen, intuitiv besser zu handeln als auf der Grundlage rationaler Entscheidungen, dann stimmt das nur in solchen Situationen, die wir in ähnlicher Weise schon einmal erlebt haben und uns dabei richtig oder vorteilhaft verhalten haben, ohne dass uns dies bewusst ist. Ansonsten ist und bleibt es ein Zufall, wenn sich ein Verhalten als richtig herausstellt, ohne dass das Unterbewusstsein sich in seinen Entscheidungen auf abgespeicherte Erfahrungswerte berufen konnte.

Alle anderen Entscheidungen und Verhaltensweise bleiben das Spielfeld der Rationalität. Wenn das Gehirn sich also auf ausreichende Fakten und ausreichendes bewusst zugängliches Wissen berufen kann und genügend Zeit zur Verfügung steht, hat die Ratio seine gut begründete Berechtigung.

Wenn uns also heute bekannt ist – und das sollte als ausreichend wissenschaftlich und durch Empirie belegtes und damit auch bewusst zugängliches Wissen akzeptiert werden – dass das soziale Verhalten eines Hundes einerseits durch seine Grundbedürfnisse bestimmt wird und andererseits durch die ihm entweder im Zuge der Domestikation oder während der jetzigen Haltung vom Menschen übertragenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, dann macht es mehr Sinn, bei einem verhaltensauffälligen Hund in diesen beiden Bereichen nach den Ursachen zu suchen, als aus dem Bauchgefühl oder intuitiv zu handeln. Wer beispielsweise einen verhaltensauffälligen Hund mit dem Reichen von Leckerli von seinem Verhalten abhalten will, weil er in anderen Situationen ihm damit erfolgreich das Tanzen auf einem Bein beigebracht hat, handelt zwar intuitiv, aber in diesem Falle falsch. Hier führt eine rational getroffene Entscheidung, basierend auf knallharten und dem Bewusstsein zugänglichen Kenntnissen eher zum Erfolg.

Insofern macht es schon Sinn, auf den Rat erfahrener und mit viel Wissen ausgestatteter HundetrainerInnen zu hören, falls der Erfahrungsschatz des eigenen Unterbewusstseins noch ziemlich klein ist.

Aber eine Botschaft an alle Fans des intuitiven Handelns habe ich noch: Wenn ein sogenannter Hundetrainer ihrem verhaltensauffälligen Vierbeiner seine Macken mit Hilfe von Leckerli austreiben will, vertrauen sie doch lieber ihrem Bauchgefühl.