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Warum fällt uns der Abschied so unsagbar schwer?

Es ist die Geschichte einer jungen Frau und ihrer treuen Begleiterin, die fünfzehn Jahre lang an ihrer Seite lief, ohne auch nur ein einziges Mal die Selbstverständlichkeit ihrer Zusammengehörigkeit in Frage zu stellen oder gar sie zu enttäuschen. Ich spreche von einer jungen Frau und ihrer Golden Retriever Hündin namens Senta.

Ich schäme und ärgere mich ein wenig für das Zögern, diese Geschichte an dieser Stelle überhaupt erzählen zu wollen. Denn die Geschichte ist nicht nur einfach Wert, erzählt zu werden; sondern – nüchtern betrachtet – habe ich als Hundetrainer beiden Protagonistinnen nicht nur unzählige schöne Stunden zu verdanken, sondern sogar sehr viel Wissen um die Beziehungen zwischen Hund und Mensch. Auch deshalb erzähle ich ihre Geschichte, verbunden mit dem Gefühl einer tiefen Dankbarkeit.

Es ist eine Geschichte, die, wenn man sie mit den Fähigkeiten eines Steven Spielberg oder Woody Allen erzählen könnte, sicherlich für jede Soap taugen könnte. Diese Fähigkeiten habe ich aber leider nicht. Deshalb kann ich sie nur sehr nüchtern aus der Perspektive eines Beobachters erzählen, der am Ende der Geschichte eine sehr traurige junge Frau sieht, die man einfach nur in den Arm nehmen möchte, um sie zu trösten. Auch wenn man weiß, dass man das eigentlich gar nicht kann.

Die heute junge Frau, damals ein junges Mädchen von 13 Jahren, bekam von ihrer Mutti zum Geburtstag nach langem Betteln das schönste Geschenk, was man diesem Mädchen überhaupt hatte machen können: Ein kleines acht Wochen altes weißes Knäuel, dessen Antlitz alle Klischees eines Kuscheltieres erfüllte. Nichts auf dieser Welt hätte das Mädchen dazu gebracht, dieses kleine lebhafte und sanftmütige Wesen je wieder herzugeben. Vielleicht war es von der Mutti sogar als eine Art Trost oder vielleicht sogar sozialer Ersatz gedacht, denn zu dieser Zeit musste das Mädchen einige Schicksalsschläge verkraften. Denn nicht nur, dass ihre Schwester die elterliche Wohnung verließ und damit eine wichtige Bezugsperson verloren ging. Viel schlimmer traf sie der ewige elterliche Streit, der in ihrer Trennung einen traurigen Höhepunkt fand; eine der für Kinder wohl schlimmsten Szenarien und in ihrer Konsequenz unendlich traurig machende Katastrophe.

Und damit war wohl mehr ungewollt als gewollt die wichtigste Rolle dieses kleinen Hundes besiegelt, die er auch noch mehrfach viele Jahre später spielen sollte: Ein durch nichts zu ersetzender Tröster in so manch unerträglich traurig erscheinenden Momenten. Wenn einem scheinbar nichts mehr auf dieser Welt als Trost taugt; ein Hund kann es allemal. Auch wenn er, rational betrachtet, einem Menschen in solchen Situationen nicht wirklich effektiv helfen kann; allein schon seine wohltuende Präsens, ohne zu fragen oder eine Gegenleistung zu erwarten, bietet er dem Menschen eine Stütze, ohne die so manch einer vielleicht sogar umfallen würde.

Und was mir immer wieder in ähnlichen Situationen auffällt, ist die nicht nur scheinbare, sondern tatsächlich gezeigte soziale Kompetenz und emotionale Intelligenz eines Hundes. Er ist faktisch in der Lage, mittels seiner Instinkte und ihrer kognitiven Verarbeitung die Gemütslage des Menschen sehr genau zu interpretieren und nicht nur empathisch, sondern sogar altruistisch zu reagieren. Dazu sind nicht einmal Kinder in der Lage, die uns beispielsweise noch weiter „nerven“, selbst wenn Hunde schon längst erkannt haben, jetzt lieber aufzuhören, die eigenen Interessen als Maß aller Dinge zu sehen. Aus dieser Fähigkeit leiten sich nicht zuletzt auch ihre therapeutischen Wirkungen und Erfolge ab.

Aber zurück zu unserer Senta. Warum hat mich diese Hündin auch als Hundetrainer so begeistert?

Sie war für mich der Inbegriff eines sozialisierten Hundes. Immer wenn mich Kunden fragen, was denn einen sozialisierten und damit gut erzogenen Hund ausmacht, antworte ich noch heute reflexartig: „Er muss sein wie Senta.“ Obwohl mir natürlich bewusst ist, dass niemand weiß, wer Senta ist. Aber dann fange ich an zu schwärmen und erzähle, was dieses Tier ausmacht, oder, traurigerweise, ausgemacht hat. Mir ist bisher kein anderer Hund begegnet, der derart in sich ruhend, ausgeglichen und scheinbar glücklich durch die Welt eines Hundes gelaufen ist. Sie war nicht nur interspezifisch, also gegenüber anderen Spezies der Faune einschließlich Menschen, sozialisiert, sondern insbesondere sehr auffallend auch intraspezifisch. Das heißt, sie zeigte anderen Hunden gegenüber ein scheinbar absolutes Desinteresse; andere schienen sie „in der Wurzel nicht zu interessieren“. Erst durch sie habe ich wirklich begriffen, dass ein sozialisierter, erzogener Hund keinerlei Verlangen nach der Begegnung mit anderen Hunden hat und es somit eines der größten Irrtümer ist, anzunehmen, Hunde würden sich unendlich freuen, auf der „Hundespielwiese“ – wie diese deshalb auch heuchlerischer kaum zu bezeichnen ist – einander zu begegnen und miteinander zu raufen. Erst Senta hat mich gelehrt, dass das Begegnen fremder Hunde untereinander immer das Begegnen von Rivalen oder Konkurrenten ist, wodurch sie zumindest psychisch belastet werden oder sogar in puren Stress geraten. Echtes Interesse eines Hundes an einem anderen gibt es nur während der Läufigkeit oder innerhalb eines Rudels, wenn alle sich gut kennen oder die Absichten des anderen abgeklärt sind.

Aber Senta war natürlich nicht nur für mich als Hundetrainer ein Segen, sondern in erster Linie für die junge Frau. Sie war nicht nur ihr moralischer Tröster in schwierigen Lebenssituationen, nein, sie war sogar ungewollt ihr und sogar mein Glücksbringer. Und zwar durch ihre beinahe schon liebenswerte Verfressenheit. Durch sie habe ich begriffen, dass Hunde sich scheinbar im wahrsten Sinne des Wortes totfressen können. Senta hat alles gefressen, was ihr vor die Nase kam. Leider – oder für mich eben glücklicherweise – auch Döner samt Alufolie und Plastiktüte. Im Ergebnis dessen ich mich in diese junge Frau verliebt habe. Denn ich habe ihr den Vielfraß gefühlte zehn Kilometer zum Tierarzt getragen und anschließend nach Hause. Zwar hat sie mir damals noch „aus Dankbarkeit“ die Tür vor der Nase zugeschlagen, doch das hat sich später verflüchtigt und in “Gastfreundschaft” gewandelt.

Senta hat uns beide anschließend nach Gran Canaria begleitet, wo wir einige Jahre unseren Träumen nachgelaufen sind, und auch hier wieder nicht nur über sehr viel Heimweh hinweggeholfen. Und wieder hat mich ein Hund gelehrt, dass er ein treuer Freund ist, selbst wenn er an seine Leistungsgrenzen stößt. Denn Gran Canaria im Sommer ist Afrika. Aber ein Hund, dessen Grundbedürfnisse durch Frauchen zuverlässig befriedigt werden, quittiert nicht seinen Dienst. Er bleibt ein zuverlässiger und treuer Freund.

Und eine weitere wichtige Kenntnis hat mich diese Hündin gelehrt, als unser kleiner Sohn das Licht der Welt erblickte. Wochenlang zuvor haben wir uns darüber Gedanken gemacht, worauf wir zu achten hätten, wenn eine Hündin sozusagen in ihrem Rudel einen menschlichen Nachwuchs zu akzeptieren hat. Kommt es dabei vielleicht zu Eifersüchteleien oder sonstigen Konflikten? Alles Quatsch! Ein erzogener Hund, der interspezifisch sozialisiert ist, sieht in dem Kind keinen Konkurrenten; im Gegenteil, das Kind ist der Nachwuchs des „Rudels“ und besitzt damit alle Narrenfreiheiten und genießt sogar ihren Schutz. Senta hätte für unseren Sohn ihr Leben geopfert.

Jetzt hat uns Senta leider verlassen. Der Tierarzt hat sie von ihrem Leiden befreit. Fünfzehn Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber dann doch viel zu kurz. Die junge Frau steht am Fenster und blickt mit ihrem kleinen Sohn in den Garten, als er fragt: „Wo ist denn Senta?“ Mama weint und antwortet ihm mit Blick auf einen kleinen frisch gepflanzten Baum im Garten: „Sie schläft jetzt.“