oder
Die zwei Seiten einer Medaille
Hundebesitzer(innen), die mich zu sich und ihrem sogenannten verhaltensauffälligen Hund rufen, beklagen in der Regel nicht den mangelnden Ausbildungsstand ihrer Schützlinge, sondern beklagen eher die mangelnde Erziehung ihrer „Rüpel“: So beklagen sie beispielsweise ihre mangelhafte Leinenführigkeit wie das kräftezehrende Zerren an der Leine oder ihre Aggressivität anderen Menschen und Tieren gegenüber. Nicht selten sind auch sehr ernst zu nehmende Fälle von Beißattacken und Übergriffe auf Kinder zu beklagen. Ebenso ist das nervende Kläffen am Gartenzaun oder hinter der Wohnungstür, wenn Herrchen oder Frauchen sie verlassen haben, ein oft genanntes Problem. Aber sie beklagen auch die Angsteskapaden ihrer Schützlinge, wenn diese irgendwelchen Schreck einflößenden Umwelteinflüssen ausgesetzt sind wie Silvesterlärm, Feuerwehrsirenen oder ähnlichen Schreckgespenstern.
Mit anderen Worten, es geht nicht darum, dass die Hunde solche Kommandos wie Sitz, Platz und Co. nicht beherrschen oder sonstige Befehle nicht befolgen und bestimmte Aufgaben nicht lösen würden, sondern dass sie ein Verhalten an den Tag legen, welches man bei Kindern als unerzogen beschreiben würde. Bei Hunden beschreiben wir es als nicht oder nicht ausreichend sozialisiert. Eine Sozialisation sollte auf drei Ebenen stattgefunden haben, um sagen zu können, dass die Erziehung des Hundes erfolgreich abgeschlossen sei.
Die drei Ebenen der Sozialisationen sind:
- die intraspezifische,
- die interspezifische und
- die umweltspezifische.
Die intraspezifische Sozialisation betrifft das verträgliche Verhalten des Hundes gegenüber anderen Artgenossen seiner Spezies. Aus meiner Sicht gilt sie dann als abgeschlossen, wenn er in anderen Hunden keine Konkurrenten oder Rivalen mehr sieht bzw. sie weitestgehend ignoriert, außer während der Läufigkeit. Die interspezifische Sozialisation ist die Verträglichkeit mit anderen Mitgliedern der Fauna einschließlich Menschen; er in ihnen also auch keine Bedrohung sieht. Und die umweltspezifische ist die angstfreie Verhaltensweise gegenüber allen Umwelteinflüssen.
Damit sei verdeutlicht, dass allein schon die Zielstellungen einer Erziehung völlig andere sind als die der Ausbildung, bei der das Beherrschen bestimmter Aufgaben im Vordergrund steht. Ob dies auch Auswirkungen hat oder haben muss auf die Methoden zum Erlernen oder Beherrschen der entsprechenden Zielstellungen werden wir noch sehen.
Nun sind die Übergänge zwischen Ausbildung und Erziehung sicherlich an manchen Stellen fließend und demzufolge auch die in den Methoden. Aber entscheidend ist der signifikante Unterschied in der Art der Motivation des Hundes für sein Handeln und deshalb Methoden der Ausbildung für seine Erziehung oftmals als ungeeignet entlarvt, auch wenn diese über einen längeren Zeitraum angewendet mehr oder weniger zum scheinbaren Erfolg führen:
Die Sozialisation des Hundes ist nur dann nachhaltig erfolgreich, wenn sein Verhalten durch seine intrinsische Motivation gesteuert wird; er sich also aus ureigenem Interesse so verhält wie er sich verhalten soll und nicht aufgrund irgendwelcher äußerer Stimuli. Immer wenn extrinsische, also von außen wirkende Motivatoren das handeln steuern müssen, um ein bestimmtes Verhalten des Hundes zu initiieren, sollte man von einer Konditionierung, also dem Ergebnis einer Ausbildung ausgehen und nicht von einer Erziehung im hier gemeinten Kontext.
Insofern sind alle Methoden der Belohnung keine reinen Erziehungsmethoden, sondern immer Formen der Konditionierung. Dass diese irgendwann auch zu einem gewünschten Verhalten des Hundes führen können, ist völlig unstrittig. Aber das entscheidende Element der Erziehung, die intrinsische Motivation, fehlt in der Regel.
Bei der Erziehung des Hundes hingegen wird, anders als bei der Ausbildung, ausschließlich die Befriedigung eines seiner Grundbedürfnisse ausgenutzt, um das Erziehungsziel zu erreichen. Denn nur so kann das Kriterium der intrinsischen Motivation erfüllt werden. Und dabei spielt das hündische Bedürfnis nach Sicherheit – im engeren wie im weiteren Sinne – die entscheidende Rolle.
Man kann verallgemeinernd sagen, dass der Hund sich immer dann aus der Urteilsperspektive des Menschen unauffällig oder verträglich verhält, wenn sein Grundbedürfnis nach Sicherheit für ihn als befriedigt gilt. Im Umkehrschluss heißt dies, dass der Hund immer dann vermeintlich verhaltensauffällig ist, wenn sein Grundbedürfnis nach Sicherheit nicht erfüllt ist. Allerdings ist dieses Verhalten nur vermeintlich auffällig, weil es aus seiner Perspektive betrachtet als völlig normal zu bewerten ist, denn er will durch dieses Verhalten nichts anderes, als sein Grundbedürfnis befriedigen. Nur der Mensch empfindet es als auffällig, weil oder wenn er den wahren Grund nicht durchschaut.
Insofern sind alle die Methoden für die Erziehung eines Hundes geeignet, mittels derer dem Hund demonstriert wird, dass Herrchen oder Frauchen immer und überall für seine und ihre eigene sowie die Sicherheit aller zu ihrem “Rudel” gehörenden Mitglieder sorgen oder mittels derer dem Hund jegliche Verantwortlichkeit für irgendeine Ressource genommen wird, für deren Sicherheit auch er ansonsten selbst zu sorgen hätte. Und diese Methoden haben mit Sicherheit nichts mit Leckerlies oder sonstiger positiver Bestärkung zu tun, sondern ausschließlich mit Demonstration und gleichzeitiger Korrektur des hündischen Verhaltens. Wichtig dabei ist allerdings die Simultanität beider Faktoren. Der Mensch muss dem Hund durch die Korrektur seines Verhaltens zeigen, dass dieses Verhalten unerwünscht ist und ihm gleichzeitig demonstrieren, dass es keinen Grund mehr für ihn gibt, sich so zu verhalten wie er sich verhält.
Am Beispiel der Aggressivität gegenüber anderen Hunden kann deshalb der Aberwitz solcher Methoden wie die positive Bestärkung oder das Reichen von Leckerlies und ihre Nichteignung als Erziehungsmethode verdeutlicht werden: Wenn der Hund beispielsweise anderen Hunden begegnet und er sie aufgrund seiner noch nicht erfolgten Sozialisation nicht ignoriert, also noch als Rivalen oder Konkurrenten betrachtet, würde das in dieser Situation beispielsweise getätigte Reichen von Leckerlies nur eine reine Ablenkungsmaßnahme sein. Der eigentliche Grund, die anderen Hunde noch als Konkurrenten oder Rivalen zu betrachten, wäre damit ja in keiner Weise beseitigt. Denn der Hund betrachtet andere Hunde immer dann als Rivalen oder Konkurrenten, wenn er selbst für seine Sicherheit im engeren und weiteren Sinne zu sorgen hat. Und das Reichen von Leckerlies wird ihn ja wohl kaum von seinem Verantwortungsgefühl befreien. Bedauerlicherweise kommt die irrige Vorstellung, dass durch Konditionierung in solchen Situationen doch eine Erziehung erfolgen könnte, dadurch zu Stande, dass bei ständiger Wiederholung und ausreichender Stärke des Stimulus, der Hund irgendwann soweit konditioniert sein kann, dass er schon Speichelfluss bekommt, nur wenn seine Rivalen um die Ecke kommen. Nicht etwa aus Fleischeslust, sondern wegen des zu erwartenden Leckerli, denn der unbedingte wurde zu einem bedingten Reflex und unterdrückt sein agonistisches Verhalten gegenüber seinen Rivalen. Das geht aber u.U. nur so lange gut, wie die Stärke des Stimulus stark genug ist. Mit Erziehung hat das Ganze jedoch nichts zu tun.
Wenn aber Herrchen oder Frauchen statt seiner diese Sicherheitsaufgabe für ihn übernehmen würden und ihm dies auch eindeutig demonstrieren, wäre damit der Grund für seine Rivalität sofort verschwunden. Und er hätte sicherlich ab sofort keinerlei Interesse mehr an seinen Artgenossen. Erst dann sollten wir aber von Erziehung reden.
Der interessierte Leser kann dies exemplarisch auf einer „Hundespielwiese“ – wie dieser Ort übrigens falscher und heuchlerischer kaum beschrieben werden kann – beobachten. Sollte sich hier eine Horde fremder Hunde begegnen, wird es im besten Falle zunächst zu einem wilden Ritual des gegenseitigen Kontrollierens und Schlichtens kommen, um sich gegenseitig zu beteuern, sich kein böswilliger Feind zu sein. Ich betone, im besten Falle. Sowie dieses Ritual dann aber ohne größere Konflikte und Schäden überstanden wurde – was nicht selbstverständlich ist – wird man sehr bald beobachten können, dass alle Beteiligten sternförmig auseinander rennen und kaum noch ein Hund sich für einen anderen zu interessieren scheint. Sie haben – außer während der Läufigkeit – halt keinerlei Interesse aneinander. Nun könnte man entgegenhalten, dass dieses gleiche Ritual aber bei jeder neuen Begegnung wieder so ablaufen würde, sogar wenn die gleichen Hunde sich am nächsten Tag wieder begegnen würden. Das sei doch ein Indiz dafür, dass sie sehr wohl aneinander ein Interesse zeigen; denn dass sie keine Feinde sind, hätten sie sich doch schon gestern beteuert. Aber mitnichten; diese nur scheinbare Wiedersehensfreude lässt sich damit erklären, dass die Hunde nicht einschätzen können, ob sich über Nacht nicht irgendetwas an den Absichten der anderen geändert haben könnte.
Und übrigens, das mit Sicherheit durch den interessierten Beobachter zu beobachtende wilde Gewedel aller Ruten der an diesem Ritual Beteiligten hat nicht etwa was mit deren unsagbarer Freude zu tun. Im Gegenteil, es ist Ausdruck extremer Unsicherheit und grenzt an Stress.
Somit kann man sagen, dass das gesamte Verhalten eines Hundes zwar das Resultat und Spiegelbild sowohl seiner Ausbildung als auch seiner Erziehung ist. Allerdings sind beides zwei verschiedene Seiten einer Medaille. So wie man sagen kann, dass ein Kind, welches Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie erklären könnte, gut ausgebildet wäre, aber deshalb noch lange nicht gut erzogen sein muss. Trotz Beherrschung der Gravitationstheorie könnte das Kind jeden Tag bösartig andere Kinder verprügeln oder Ladendiebstähle begehen. Die Ausbildung hat immer etwas mit dem Beherrschen von Fähigkeiten und Fertigkeiten zu tun. Die Erziehung hingegen ist das Akzeptieren von Regeln, um in einer sozialen Gemeinschaft miteinander konfliktfrei klarzukommen.
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