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Ein weiteres Beispiel für den Leim des Anthropomorphismus

Auf meinen vorherigen Beitrag, in dem ich auf die Erziehung von Hunden eingegangen bin, denen teilweise schwere Beißattacken auch gegenüber Menschen zur Last gelegt werden, reagierte eine Leserin mit der Meinung, dass Gewalt oder Bestrafung beim Hund Gegengewalt bzw. Frustration erzeuge und sie selbige deshalb ablehne.

Ich habe sogar Verständnis dafür, wenn jemand instinktiv geneigt ist, dieser Aussage sofort zuzustimmen. Insbesondere wenn er oder sie sich gedanklich gerade in unserer gesellschaftspolitischen Welt, also der der Menschen, befindet.

Aber ist diese Weisheit der Kausalität von Bestrafung und Frustration auch so einfach anzuwenden auf die Welt der Hundeerziehung? Ich meine, nein. Denn nicht einmal in der humanen Welt ist sie so eineindeutig, wenn man bedenkt, dass selbst da das Gefühl der Frustration immer durch das Element der zumindest gefühlten Ungerechtigkeit bedingt ist. Fehlt dieses Element, ist selbst da der Frust nach einer Bestrafung nicht obligat. Auch wenn diese Weisheit lieb gemeint ist und scheinbar in den Zeitgeist passt, wonach vermeintliche Erziehungsmethoden mit „positiver Bestärkung“ o.ä. Hochkonjunktur zu haben scheinen, sie ist nicht so einfach anwendbar. Nicht nur Laien, bewusst oder unbewusst, projizieren immer wieder unberechtigt den Maßstab der humanen Welt auch auf die Welt der Kaniden und werden dadurch – oftmals sicherlich unwillentlich – „Opfer“ des Anthropomorphismus und gehen diesem auf den Leim. Das „Vermenschlichen“ des Hundes ist übrigens eine der wichtigsten Gründe, wenn nicht sogar der wichtigste, für das Missverstehen zwischen Mensch und Hund (siehe dazu auch mein Buch „Problemhunde und ihre Therapie“).

Wir sollten uns aber immer wieder in Erinnerung rufen, dass die Erkenntnisse aus der Erziehungswissenschaft des Menschen, insbesondere natürlich die der Kinder, nicht eins zu eins auch auf die Welt des Hundes angewendet werden können und dürfen.

Denn zunächst einmal sollten wir uns vergegenwärtigen und akzeptieren – selbst wenn es nicht in die Welt des modernen und aufgeklärten Menschen passt: Bestrafungen, Sanktionen oder Korrekturen sind in der animalischen Welt völlig legitime und selbstverständliche Mittel der Erziehung. Selbst wenn einige dieser Mittel sogar Elemente von Gewalt enthalten. Man kann sogar sagen, dass eine Erziehung ohne diese Mittel in einer Familie der Kaniden ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Wie wollten ansonsten Hundemutter und Hundevater ihren Schützlingen die Welt erklären und ihnen die notwendigen Regeln für ein erfolgreiches Überleben vermitteln? Sie haben nur zwei Möglichkeiten: Vormachen und Korrigieren. Verbale Erklärungen, Erläuterungen oder gar meinungsbildende Diskussionen als Mittel der Erkenntnisfindung gehören bekanntermaßen nicht zu ihrem Repertoire. Und Leckerli als Mittel der Erziehung kennen sie schon mal gar nicht. Die hat sich nur der Mensch als probates Mittel zur Ausbildung von Hunden oder anderen Tieren einfallen lassen, um ihnen irgendwelche Tricks wie das Tanzen auf zwei Pfoten beizubringen; wo sie übrigens auch völlig legitim sind. Als Mittel der Erziehung sind selbst sie aber ungeeignet und haben hier auch nichts zu suchen.

Vielleicht liegt die Ablehnung dieser Vorstellung auch in der Assoziation begründet, die der Begriff „Gewalt“ in unserem cerebralen Cortex produziert. In meinem Beitrag, auf den sich die eingangs erwähnte Leserinnen-Kritik bezieht, habe ich auch bewusst den Begriff „Gewalt“ verwendet. Nicht nur, um eine Diskussion zu provozieren, sondern auch um deutlich zu machen, dass die meisten Mittel der Korrektur durchaus Merkmale von Gewalt enthalten. Aber bitte unterstelle man deshalb nicht, dass die hier gemeinte Gewalt grundsätzlich gleichbedeutend wäre mit Schlägen oder Tritten. Eine solche Gewalt ist von mir auch überhaupt nicht grundsätzlich gemeint gewesen. Aber ein kräftiger Ruck an der Leine beispielsweise trägt eben auch Züge von Gewalt. Deshalb müssen auch solche Mittel mit dem Begriff „Gewalt“ belegt werden dürfen, ohne dass man dabei gleich vor Scham im Boden versinken müsste.

Aber nun zur eigentlichen und eingangs erwähnten Frage: Verursacht Bestrafung – die auch Züge von Gewalt in sich tragen kann – grundsätzlich Gegengewalt oder Frustration?

Um die Antwort nicht zu verkomplizieren, beschränke ich mich in der Beschreibung auf die Frustration. Sinngemäß gilt es aber auch für die Gegengewalt.

Zunächst müssen wir uns die Definition von Frustration anschauen:

Ich zitiere dazu einen Passus aus dem Lexikon der Psychologie: „Frustration bezeichnete zunächst in psychoanalytischem Kontext das emotionale Resultat einer verhinderten Triebreduktion … und schuf dadurch einen ersten engen Bezug zur Aggression. Allgemein- bzw. alltagspsychologisch verwendet beschreibt Frustration hingegen das komplexe Erlebnis einer wirklich erlittenen oder auch nur als solcher wahrgenommenen Benachteiligung. Dies rückt Frustration … in die Nähe sozialpsychologischer Ansätze der (Un-) Gerechtigkeit und birgt andererseits eine Verbindung zum motivationspsychologischen Begriff der Erwartung.“

Da sich diese Definition auch wieder nur auf den Menschen bezieht, müssten wir eigentlich erst einmal diskutieren, ob sie auch auf den Hund anwendbar ist. Dies verkneife ich mir aus zwei Gründen der Einfachheit halber, weil zum einen auch beim Hund tatsächlich Anzeichen von Frustration, die mit dem menschlichen Empfinden vergleichbar zu sein scheint, beobachtet werden können. Insbesondere durch Abreaktionen sind diese erkennbar. Und zum anderen würde uns eine solche Grundsatzdiskussion nicht wirklich bei der Klärung des eigentlichen Problems helfen. Allerdings müsste das Zutreffen des zweiten Teils der oben zitierten Definition schon diskutiert werden. Denn aus ihm geht ein Moralaspekt der Frustration hervor. Das bedeutet, wir müssten klären, ob auch Hunde Moralkriterien kennen. Bei Primaten sind sie eindeutig belegt. Bei Hunden kann man sie bisher nur vermuten oder allenfalls vage belegen. Deshalb lasse ich diesen Aspekt an dieser Stelle beiseite und konzentriere mich auf den ersten Teil der Definition: „… das Resultat einer verhinderten Triebreduktion …“. Denn dies reicht aus zur Erklärung des Problems.

Das Gefühl der Frustration entsteht demzufolge dann, wenn der Hund den Trieb, dem er in einer bestimmten Situation folgt, nicht abbauen bzw. reduzieren kann. Denn im Ergebnis einer von Trieben gesteuerten Handlung soll immer deren Befriedigung stehen. Wenn nicht, kommt es zur Frustration.

Also gilt es zunächst zu klären, von welchen Trieben wir im hiesigen Kontext eigentlich sprechen bzw. ich in meinem vorherigen Beitrag gesprochen habe? Es geht und ging nämlich um die Befriedigung des Bedürfnisses des Hundes nach seiner eigenen Sicherheit bzw. die seines Herrchens oder Frauchens oder irgendeiner Ressource, für die er bewusst oder unbewusst die Verantwortung übertragen bekommen hat. Gleiches gilt auch für irgendeine ihm übertragene Aufgabe wie beispielsweise das Beschützen oder Behüten.

Wenn nun der Hund, wie ich beschrieben habe, in seiner unerwünschten Handlungsabsicht oder nach einer unerwünschten Handlung korrigiert wird, entweder durch eine Bestrafung oder Sanktion, kann es nur zu einem Gefühl der Frustration kommen, wenn nicht simultan eine Triebreduktion stattfindet. Und wer meinen Text aufmerksam gelesen hat, wird sich erinnern, dass ich ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass eine Korrektur oder Sanktion nur dann sinnvoll ist, wenn dem Hund gleichzeitig der Grund für sein beabsichtigtes oder tatsächliches Handeln genommen wird. Und indem ihm der Grund genommen wird, wird ihm quasi auch der Trieb “genommen”.

Insofern wäre es doch absurd zu behaupten, ein Hund empfinde Frustration, obwohl ihm der Trieb, den er befriedigen bzw. reduzieren wollte, „abhandengekommen“ ist.

Wird ein Hund allerdings bestraft oder ihm gegenüber Gewalt angewendet, ohne dass ihm der Grund für sein unerwünschtes Verhalten genommen wird, er also weiterhin noch den Trieb besitzt, kommt es tatsächlich zu Reaktionen, die sich seinerseits in Frustration oder sogar in einer Art Gegengewalt offenbart. Denn er fühlt sich zu „Unrecht“ bestraft (ob der Begriff „Unrecht“ in der hündischen Welt verwendet werden kann, müsste ebenfalls diskutiert werden, denn laut Definition bedingt er einen sozialpsychologischen Moralaspekt; zumindest aber kommt der Hund in einen Konflikt, wenn die Bestrafung für ihn nicht logisch ist und im Widerspruch zu seiner ihm übertragenen Aufgabe steht).

Wenn also beide „Maßnahmen“ grundsätzlich gleichzeitig stattfinden, 1. die Korrektur (bzw. Bestrafung) und 2. die Entbindung von der Verantwortung, ginge es, salopp ausgedrückt, mit dem Teufel zu, wenn der Hund trotzdem noch „wütend“ werden sollte. Das Gegenteil ist viel wahrscheinlicher: Entbindet man ihn seiner Verantwortung, wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von nun an regelrecht entspannt und relaxt neben Frauchen dahertrotteln und schon gar nicht auf die Idee kommen, fremde Kinder attackieren zu wollen. Warum auch? Wenn Frauchen selbst für ihre und sogar seine Sicherheit sorgt, warum soll er dann selbst noch diesen „Stress“ auf sich nehmen.

Somit will ich abschließend noch einmal das in meinem vorherigen Text gegebene Statement wiederholen und bekräftigen:

Sollte ein Hund einem kleinen Kind gegenüber auch nur das kleinste Zeichen von Aggressionen zeigen – und dazu gehören schon das Knurren oder alle übrigen Indizien seiner Körpersprache, die bedauerlicherweise oftmals vom Laien gar nicht erkannt werden – muss ihm sofort, unmittelbar und kompromisslos durch eine energische Korrektur (Sanktion oder Bestrafung, die auch weh tun darf) demonstriert werden, dass dies für ihn ein absolutes „No Go“ ist. Allerdings muss ihm simultan zwingend!!! und demonstrativ der Grund für seine Aggression genommen werden. Denn er ist nicht grundlos aggressiv. Es gibt keinen Trieb ohne Grund oder Auslöser. Und dazu bedarf es einer Analyse hinsichtlich der ihm bewusst oder unbewusst übertragenen Verantwortungen. Denn der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Beseitigung des Grundes für die Aggression. Nur ein Hund, dem die Verantwortung für seine eigene Sicherheit oder die seines „Rudels“ oder die einer Ressource übertragen wurde, entwickelt Aggressionen. Denn diese zählen zu seinem natürlichen agonistischen Verhaltensrepertoire. Insofern gebe ich auch niemals dem Hund die „Schuld“ für seine Attacken. Die tatsächliche „Schuld“ lastet auf Herrchen oder Frauchen, die ihm – meistens unbewusst – eine Verantwortung übertragen haben, der er nur gerecht werden will.

Eine abschließende Bemerkung kann ich mir aber nicht verkneifen:

Man sollte sich bei der Beurteilung oder Bewertung von Erziehungsmaßnahmen, bevor man sie sofort in Bausch und Bogen verurteilt und ablehnt, auch immer mal wieder vor Augen halten, wie man sich als HundebesitzerIn gegenüber einer jungen Familie rechtfertigen wollte, deren kleines vierjähriges Kind durch den Hund bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde. Ob man dann auch diesen Eltern gegenüber den Mut aufbringen würde zu sagen, es tue einem zwar Leid, was dem Kind wiederfahren sei, aber Gewalt oder Bestrafung lehne man in der Erziehung seines Hundes kategorisch ab?

Ich würde auch allen Kritikern, die so vehement das Mittel der Bestrafung verurteilen und dabei auch immer gerne die Keule der Moral schwingen, zu gerne die Begleitung eines Amtstierarztes ans Herz legen, wenn dieser dem oder der  betreffenden HundebesitzerIn die Konsequenzen der Beißattacke ihres Hundes klar macht und nicht selten die Einschläferung als Option in Erwägung zieht.

Ist es da nicht sogar moralisch die bessere Option, auch oder insbesondere im Interesse des Tieres, im Rahmen seiner konsequenten Korrektur – auch unter Nutzung bestrafender Methoden, die durchaus auch mit Schmerz korrelieren – dem Ganzen ein Ende zu bereiten, in dessen Ergebnis der Hund erfahrungsgemäß in einer völligen Entspanntheit sein weiteres Leben genießen darf? Denn – auch wenn ich mich wiederhole – die korrekte und von mir gemeinte Korrektur wird immer flankiert durch die Entbindung des Hundes von seiner Verantwortung. Eine andere Art der Bestrafung habe ich auch nie gemeint, auch wenn man dies gerne in meine Texte hineinlesen möchte.

Wenn mein Hund – und ich liebe ihn sehr – einem fremden Kind Leid zufügen würde, würde ich ihm sicherlich sogar sehr wehtun. Allein schon aus Scham den Eltern gegenüber. Allerdings müsste ich mir dann auch eingestehen, bei der bisherigen Erziehung meines Hundes völlig versagt zu haben.