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Das Märchen vom tapferen Schneiderlein

Neulich fragte mich eine Kundin mehr suggestiv als wissbegierig, ob ich auch ein Antijagdtraining anbiete. Suggestiv war ihre Frage deshalb, weil sie sie nicht als offene oder geschlossene Frage formulierte, sondern meine zu erwartende Antwort schon mit in ihre Frage hineinformulierte:

„Sie bieten doch sicherlich auch ein Antijagdtraining an, oder? Mein Rabauke jagt nämlich alles, was in sein Beuteschema passt und ist dann nicht mehr abrufbar. Und das nervt mich ungemein.“

Meine Antwort war zugegeben etwas süffisant, wofür ich mich auch sofort entschuldigte. Aber ich wollte ihrer Aufmerksamkeit einen kleinen Stupser verpassen, um meine Antwort und insbesondere deren Botschaft auch auf fruchtbaren Boden fallen zu lassen. Diesen Trick hat mir ein Kommunikationswissenschaftler verraten, wenn man befürchten muss, dass der Gesprächspartner die Antwort meint schon zu kennen und deshalb nur noch halb oder gar nicht mehr hinhört und eine in der Antwort eventuell enthaltene wichtige Botschaft dadurch gar nicht wahrnimmt.

Ich antwortete ihr nämlich mit einer Gegenfrage:

„Wenn Sie ein Fluglehrer wären und wollten Werbung für ihre Flugschule machen, würden Sie dann auch mit dem Slogan werben: Ich biete allen Fluginteressierten und künftigen Piloten eine Ausbildung zur Beherrschung der Landeklappen an?“

Woraufhin sie mich sichtlich veräppelt gefühlt fragte, was denn beides miteinander zu tun habe.

„Nun ja, eine separate Ausbildung zur Beherrschung der Landeklappen ist für einen künftigen Piloten genauso überflüssig wie ein Antijagdtraining bei einem Hund. Beides sind nämlich selbstverständliche Nebeneffekte der eigentlichen Ausbildung des Piloten bzw. Erziehung des Hundes.“

Wenn ich als Hundetrainer ihr als meine Kundin ein separates Antijagdtraining anbieten und mir bezahlen lassen würde, wäre es vergleichbar mit dem Verkaufen einer Flugausbildung in all ihren Einzelteilen. Es wäre für mich zwar ein lukratives Geschäft, aus der Perspektive der Kundin aber nicht.

Durch diesen Aufmerksamkeitscheck war der Cortex der Kundin für Botschaften sichtlich empfänglich genug und ich konnte ihr erklären, dass wir ihren Hund doch stattdessen nur zu erziehen bräuchten. Denn ihr Hund sei offensichtlich nicht sozialisiert, zumindest nicht interspezifisch. Dann wäre ein Antijagdtraining völlig überflüssig, weil dessen Effekt als schönes Nebenprodukt mit abfallen würde. Und dann würden wir nämlich auch, wie das tapfere Schneiderlein in Grimms Märchen sieben auf einen Streich, alle anderen Verhaltensauffälligkeiten noch gleich mit beseitigen. Denn meine Vermutung, dass es noch andere geben muss, resultierte aus der offensichtlich noch nicht erfolgreich abgeschlossenen interspezifischen Sozialisation – sprich Erziehung ihres Lieblings. Auch der finanzielle Reiz für sie bestünde darin, nicht für jedes Einzeltraining zur Beseitigung aller möglichen Auffälligkeiten einzeln bezahlen zu müssen, sondern „alle sieben Probleme“ mit einem Streich beseitigen zu lassen.

Abgesehen davon, dass ein separates Antijagdtraining gar nicht notwendig ist, ist ein solches auch falsch, wenn – wie ich zwar selten aber manchmal beobachten kann – dabei mit Hilfsmitteln wie dem Reichen von Leckerli gearbeitet wird.

Das Unterdrücken des Jagdinstinktes sollte ausschließlich das Ergebnis einer Erziehung sein und nicht das einer Ausbildung. Und bei der Erziehung haben Leckerli nichts zu suchen, wenn ich an meine Aussagen zu den intrinsischen Motiven in meinem letzten Beitrag erinnern darf. Sie sind vielmehr ein Mittel zur Konditionierung und somit geeignet zum Erreichen eines Ausbildungszieles. Wenn man Leckerli zur vermeintlichen Unterdrückung des Jagdinstinktes einsetzen würde, wäre es ja immer eine Art von Ablenkung und somit eben ein typisches Mittel zur Konditionierung eines bedingten Reflexes. Beim Hund würde im Erfolgsfalle sein Jagdinstinkt durch die stärkere Wirkung des Leckerlis nur überlagert werden. Aber was passiert, wenn später ein Hase auftaucht und die Tasche mit Leckerli ist leer? Eine Weile mag die Konditionierung noch nachwirken, aber ob dies von Dauer sein wird, wage ich zu bezweifeln. Oder es könnte durchaus passieren, dass Bello plötzlich und unerwartet ein Leckerli einfordert, nur weil am Horizont ein Langohr auftaucht.

Wesentlich effizienter zu erreichen und vor allem nachhaltig effektiv ist das Unterdrücken des Jagdinstinktes im Rahmen der interspezifischen Sozialisation des Hundes, sprich im Rahmen seiner Erziehung und nicht im Rahmen seiner Ausbildung. Dabei wird ihm sein Entscheidungsspielraum drastisch eingeschränkt bzw. sogar vollständig genommen, indem Frauchen ihm alle Verantwortlichkeiten sowohl für jegliche Ressourcen als auch insbesondere für sein Grundbedürfnis nach Sicherheit abnimmt. Und simultan muss jedes unerwünschte Verhalten reglementiert und korrigiert werden. Das Reichen von Leckerli wäre in diesem Kontext nicht nur überflüssig, sondern sogar kontraproduktiv, weil der Hund dann nicht aufgrund einer ihm bewussten Regel handeln würde, sondern aufgrund eines extrinsischen Stimulus. Dass letzterer durchaus wirksam sein kann und somit einen vermeintlichen Erfolg vorgaukelt, steht außer Frage; aber wirkt dieser Stimulus auch in allen Situationen? Da habe ich erfahrungsgemäß Zweifel.

Ob und dass die Erziehung erfolgreich abgeschlossen ist, kann man daran erkennen, wenn der Hund ständig und in allen Entscheidungssituationen den Blickkontakt zu Frauchen sucht. Denn das ist ein untrügliches Indiz dafür, dass er die Regel des konfliktfreien sozialen Zusammenlebens mit Frauchen beherrscht, alle Entscheidungen ihr zu überlassen und erst danach zu handeln. Das Übermitteln einer solchen Entscheidung während des Blickkontaktes kann in Form jeglicher Art von Gestik oder Mimik erfolgen. Bei einem erzogenen Hund wäre zwar der Jagdinstinkt dann nicht verschwunden, denn er ist ein natürlicher und kann nicht gelöscht werden, aber ein erzogener Hund würde gar nicht mehr auf die Idee kommen, einem Hasen hinterherzujagen, ohne zuvor Frauchens Erlaubnis eingeholt zu haben. Denn seinem Instinkt ungefragt und unerlaubt nachzugehen würde nicht mehr in seinem Entscheidungsspielraum liegen.