oder
Hat Harry Frankfurt Recht?
Was ich – ebenso wie Sie vermutlich auch – bis dahin noch nicht wusste, ist, dass Harry Gordon Frankfurt ein US-amerikanischer Philosoph ist. Ich stieß bei einer Recherche im Netz auf seinen Namen, weil ich auf der Suche nach einer etwas vornehmeren Begrifflichkeit für den Ausdruck Bockmist war. Ich traf auf ihn, weil On Bullshit der Originaltitel seines Werkes ist, in dem er eine 80-seitige Begriffserläuterung abgibt. Dass man so viele Seiten zu einem Begriff wie Bockmist oder Humbug füllen kann, war selbst für mich eine bemerkenswerte Nebenerkenntnis. Ich werde nämlich auch hin und wieder wegen meiner zu langen Texte kritisiert.
Aber wie komme ich darauf?
Immer wieder mal bitten mich KundInnen, meine Meinung zu sagen zu bestimmten Empfehlungen der Hundeerziehung, die sie im Internet entdeckt haben. Meistens geht es dabei um Empfehlungen, auf welchem Wege Hunde von ihren Macken wie Zerren, Bellen, Jagen oder Aggressionen aller Art befreit werden können.
Zugegeben, so richtig wohl fühle ich mich dabei nicht, denn es ist stets eine Gratwanderung zwischen Kritik und Verunglimpfung. Deshalb werde ich auch nie Namen nennen. Aber – wie ich auch bereits mehrmals betont habe – will ich mit meinen Beiträgen auch allen enttäuschten und teilweise verzweifelten HundehalterInnen eine Stimme geben, die trotz teuer bezahlter Trainingsstunden keine wirkliche Hilfe bekommen haben, und der Grund dafür in den angewendeten Trainingsmethoden zu finden ist, die zumindest nach meinen Erfahrungen und meinem Wissen schlicht und ergreifend falsch sind. Und als Grund nicht zu vergessen ist der vermeidbare Stress, den die vielen Hunde ertragen müssen, indem wochen- oder monatelang stümperhaft an ihnen herumgedoktert wird.
Und so fragte mich kürzlich während meiner Tour durch Österreich eine Kundin, die mich gerufen hatte, weil ihr „Leinenaggressor“ sie nervte, ob ich auch ein Leinenmentaltraining anböte. Wohlbemerkt, bevorich mich mit ihrem Schützling beschäftigte. Denn im Anschluss an die Trainingseinheit – und das musste sie dann auch lachend eingestehen – wäre sie wohl kaum noch auf eine solch absurde Fragestellung gekommen. Aber wie gesagt, sie konfrontierte mich mit ihrer Frage, bevor ich ihren Rambo „erzogen“ hatte. Und da ich offenbar etwas ungläubig dreinschaute, denn mir war weder der Begriff Leinenmentaltraining geläufig noch erschloss sich mir der Sinn so wirklich, schickte sie sich an, mich aufzuklären:
Es gebe nämlich einen Internet-Blog, in dem zu diesem Thema immerhin ganze Seiten gefüllt werden. Im Kern gehe es darum, dass – bevor das eigentliche Leinentraining mit dem Hund beginne – der Mensch sich zunächst im Rahmen eines mentalen Trainings, quasi allein durch seine Vorstellungskraft, das angenehme Gefühl aneignen solle, welches sich einstelle und man empfände, wenn der Hund nicht mehr an der Leine zerre. Dazu werde u.a. folgende Übung empfohlen: Frauchen oder Herrchen sollen versuchen – wie gesagt ohne Hund –, mit locker herunterhängendem Arm und locker herunterhängender Leine in der Hand, sowie unterschiedlich angewinkelten Unterarmen, das sich jetzt einstellende angenehme Gefühl in sich zu spüren und einzuprägen. Die Absicht, die dahinterstecke, sei, die für ein erfolgreiches Training notwendige Vorstellung, Erwartungshaltung und Überzeugung zu erlangen, ohne die angeblich der Erfolg des anschließenden „vernünftigen“ Leinentrainings ausbleiben könne; sozusagen als Voraussetzung, um überhaupt mental bereit zu sein, das Ziel des Leinentrainings zu erreichen. Wohlbeachtet, alles ohne Hund; nur mit locker herunterbaumelnder Leine in der Hand!
Wieder zu Hause angekommen, drängte es mich dann doch, selbst einmal ins Netz zu schauen, um auszuschließen, ob es sich nicht doch um einen Scherz handelte, den sich die Kundin mit mir erlaubte. Aber weit gefehlt; es gibt diese Empfehlungen tatsächlich:
Die Tiertrainerin betitelt ihre Empfehlungen zwar immerhin selbst als „ungewöhnliche Leinenübungen“, aber lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Ratschläge. Und sie empfiehlt sogar, die Übungen ein paar Tage lang zu wiederholen und sich quasi selbst zu beobachten, was mit einem geschehe.
Aber es kommt noch besser! So empfiehlt sie ernsthaft (ich zitiere wortwörtlich einschließlich der im Original benutzten Kleinschreibung):
„bleib in dieser körperhaltung, die leine in der hand (die locker zu boden hängt) und stell dir nun vor, dass du mit dem hund unterwegs bist. der läuft ganz entspannt an lockerer leine mit dir mit – stell dir das richtig bildlich vor, schau mal: jetzt wird er langsamer und schnüffelt ein wenig, jetzt geht er weiter, wird etwas schneller, aber er bremst sich wieder ein, bevor das ende der leine erreicht ist…. achte drauf, dass dein arm auch wirklich so entspannt bleibt, wie er vorher war und nicht schon die blosse vorstellung vom hund an der leine deinen muskeltonus wieder erhöht.“
Doch auch damit noch nicht genug. Um den Hund von seinem Zerren abzubringen, rät sie auch, eine Atemübung anzuwenden:
Ich zitiere: „zu den wichtigsten werkzeugen im hundetraining überhaupt zählt das ausatmen, besonders aber im leinentraining. wenn du tief und hörbar ausatmest, dann entspannt sich dein körper ganz unwillkürlich – und dein hund ganz automatisch mit. damit unterbrichst du wirksam euer zerrspiel (und deine emotionen, falls dir die zieherei mal wieder auf die nerven geht! entspannung ist das, was man für eine lockere leine braucht. also üb auch das erst mal im trockentraining. stell dir vor, dein hund zieht an der leine, atme tief aus und spür, wie du dich entspannst und wie die leine locker wird. wenn du das vorher schon übst, fällt es im bedarfsfall leichter.“
Ich machte während der Lektüre auch eine Mentalübung und stellte mir einmal eine meiner Alltagssituationen vor: Ich würde einem Kunden, der einen 60-kg Rottweiler, einen Pitbull Terrier oder vielleicht einen American Staffordshire Terrier sein Eigen nennt und nicht mehr Herr seines Leinenaggressors ist, empfehlen, falls sein Kraftpaket sich wieder einmal anschicken sollte, ihn durch die Gegend zu schleifen, Atemübungen einzulegen.
Aber Spaß beiseite.
Um einen an der Leine zerrenden Hund nachhaltig und sofort von seinem unerwünschten Verhalten abzubringen und eine dafür geeignete Trainings- oder besser gesagt Erziehungsmethode auszuwählen, macht es Sinn, sich zunächst die Ursachen des Zerrens bewusst zu machen. Denn die Lösung kann nur in der Beseitigung der Ursachen liegen und nicht im Herumdoktern an den Symptomen.
Nach meinen Erfahrungen gibt es nur einen Grund, warum ein Hund permanent an der Leine zerrt. Wohlbemerkt permanent! Theoretisch gebe es noch zwei weitere, die zu einem gelegentlichen Zerren führen. Dazu zählt zum einen der ausgelöste Jagdinstinkt, falls Meister Lampe am Horizont auftauchen sollte und Bello zuvor nicht erzogen, ihm also sein Entscheidungsspielraum diesbezüglich noch nicht eingeschränkt wurde. Und zum anderen das gewissermaßen in Auftrag gegebene Zerren; beispielsweise, wenn Bello einen sechsmal so schweren Schlitten wie er selbst wiegt samt Chefin oder Chef quer durch Sibirien schleppen soll. Aber ich denke, dass letzterer nicht gemeint ist, wenn Frauchen oder Herrchen gegenüber einer Hundeschule das Zerren ihrer Schützlinge beklagen und um Abhilfe bitten.
Beim Jagdinstinkt kann insofern auch „Entwarnung“ gegeben werden, da er sich gleichzeitig und sozusagen als schöner Nebeneffekt als Problem in Wohlgefallen auflöst, wenn der oben erwähnte eine Grund für das permanente Zerren beseitigt wurde. Damit will ich darauf hinweisen, dass ein separates Antijagdtraining, von dem auch häufig die Rede ist, unnötig oder überflüssig ist, wenn der Hund erzogen wurde.
Und dieser eine Grund für das permanente Zerren resultiert aus Frauchens oder Herrchens Verhalten dem Hund gegenüber. Wenn sie ihm nämlich durch ihre Gesten und Verhaltensweisen in bestimmten Schlüsselszenen signalisiert haben (meistens geschieht dies unbewusst), dass sie entweder nicht willens oder nicht fähig sind, sich und ihn zu beschützen. Und da es nach über 30.000 Jahren Domestikation den meisten Hunderassen ohnehin ins Genom geschrieben wurde, alle ihnen anvertrauten Personen und Ressourcen beschützen zu wollen, übernimmt jeder Hund quasi unaufgefordert und ohne ausdrückliche Anweisung oder Konditionierung diese Verantwortung. Ein untrügliches Indiz dafür, ob der Hund sich dieser Verantwortung bewusst ist, ist sein demonstrierter unbändiger Wille zum Aufklären des Reviers, um jegliche Feinde oder Gefahren zu eruieren. Also zerrt er wie von Sinnen, um möglichst schon weit voraus diese aufzuspüren und gegebenenfalls zu verjagen.
In diesem Zusammenhang sei mir gestattet, einem weit verbreiteter Irrtum zu widersprechen. Wer glaubt, der unbändige Wille zum Aufklären des Reviers sei im Bedürfnis des Hundes begründet, mit seinesgleichen kommunizieren zu wollen, irrt. Ich habe dies übrigens in meinen Büchern ausführlich begründet.
Also ist der sich daraus logisch ergebende Schluss:
Wenn man Bello von seinem permanenten Zerren „befreien“ will, muss man ihn von dieser Verantwortung befreien. Statt seiner müssen Frauchen oder Herrchen die Verantwortung für ihre beider Sicherheit übernehmen und Bellos Entscheidungsspielraum drastisch einschränken.
Das wird einem allerdings kaum gelingen, indem man mit dem Hund Atemübungen macht.
99. Die aberwitzigen Empfehlungen von „Profis“
Oder warum zerren Hunde an der Leine? Den folgenden Artikel habe ich meinen Hund NEO formulieren lassen, weil er am besten weiß, wovon wir hier...
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