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Die Konsequenzen für die Hundeerziehung

Neulich kam ich mit einem Kinder- und Jugendpsychologen ins Plaudern und er fragte mich, ob auch bei meiner Klientel, so wie es ihm bei seiner besonders in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren auffalle, Veränderungen festzustellen seien. Ich sah mich veranlasst, ihm spontan zuzustimmen, denn tatsächlich nehme auch ich solche Veränderungen wahr.

Dann schilderte er sehr eindrucksvoll seine Wahrnehmungen:

Er würde beispielsweise bei den Kindern und Jugendlichen, die aus unterschiedlichsten Gründen zu ihm in die Praxis kommen, einen dramatischen Verlust ihrer sozialen Kompetenz registrieren. Insbesondere fehle ihnen heute auffallend häufig die Fähigkeit zur Selbstreflexion, was es in dieser Form und in diesem Ausmaß in den Anfängen seiner Praxis nicht gegeben habe. Das heißt, sie seien kaum noch in der Lage, sich selbst realistisch einzuschätzen. Und dann schilderte er mir mehrere Fälle von 15- bis 18-Jährigen, bei denen neben ihrer psychischen Auffälligkeit auch die schulischen Leistungen nicht einmal für einen Hauptschulabschluss gereicht hätten, aber auf seine Frage nach den Berufswünschen sie voller Selbstbewusstsein solche wie Pilot, Chirurg oder Meeresforscher nannten. Auf seinen Einwand, dass sie dafür doch mindestens das Abitur benötigen würden, polterten sie empört heraus, dass sie das doch machen würden.

Nun gibt es bei meiner Klientel keine Veränderungen mit derart dramatischen Folgen. Und deren Veränderungen sind völlig anderer Natur. Aber auch ich konnte ihm bestätigen, dass sich meine Klientel und ihre Probleme, mit denen sie zu mir kommen, verändert hätten.
Und dann philosophierten wir lange darüber, worin die Ursachen wohl lägen und ob vielleicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich derart dramatisch verändert hätten.

Auch ich konnte dies, so wie er, eindeutig bejahen:

In den Anfängen meiner Trainertätigkeit hatte ich es überwiegend mit aggressiven Hunden zu tun, die durch den Amtstierarzt zu mir beordert wurden, weil sie andere Hunde und Menschen ernsthaft gefährdet hatten. Diese gibt es zwar heute ebenso noch, sogar in gleicher Häufigkeit, aber der Anteil einer anderen Gruppe ist interessanterweise wesentlich größer geworden. Nämlich die Gruppe derer, die als verhaltensauffällig eingeschätzt werden und bereits mehrfach erfolglose Hundetrainings mit sogar verschiedenen HundetrainerInnen hinter sich haben, ohne dass das „Problem“ beseitigt wurde. Ich kann sogar sagen, dass mich in den letzten beiden Jahren beinahe ausschließlich HundebesitzerInnen kontaktiert haben, die eine regelrechte Leidensgeschichte an erfolglosen Hundeschulbesuchen hinter sich haben.

Woran mag das liegen?

Meine Antwort mag vielleicht verblüffen, aber ich sehe darin den Hauptgrund, warum es heute einerseits so viele vermeintlich verhaltensauffällige Hunde gibt und andererseits die tatsächlichen Ursachen des hündischen Verhaltens nicht beseitigt werden, weil man sie offensichtlich gar nicht erkennt:

Die Rolle des Hundes in der zivilen Gesellschaft – insbesondere in der westlichen Wohlstandsgesellschaft – hat sich grundlegend verändert.
Wenn der Hund noch zu Beginn seiner Domestikation bis weit in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein beinahe ausschließlich dazu diente, Aufgaben wie das Bewachen und Beschützen von Haus, Hof und Tier zu übernehmen oder sogar – wenn ich an den englischen Bullterrier denke – von Kindern, deren Eltern tagsüber in den Industriehallen schufteten, so hat der überwiegende Teil der Hunde in der heutigen Zivilisation so etwas wie eine Begleitfunktion oder teilweise sogar die Funktion des sozialen Partners oder vielleicht sogar Ersatzes für mangelnde soziale Kontakte. Kurzum, seine aufgabenbezogene Rolle ist immer mehr in den Hintergrund getreten und seine soziale Begleitfunktion in den Vordergrund.

Damit einhergehend hat sich die Sichtweise der Menschen auf den Hund grundlegend gewandelt. Sie sehen den Hund heute als etwas völlig anderes an als das, wozu er durch seine Domestikation eigentlich geworden ist bzw. gemacht wurde. Und je mehr der Hund zum beinahe gleichberechtigten Mitglied der menschlichen Familie geworden ist, umso mehr schätzen die Menschen sogar seine Bedürfniswelt ähnlich ein wie ihre eigene. Das Resultat nennt sich „Anthropomorphisierung“, worauf ich bereits ausführlich in meinem Buch „Problemhunde und ihre Therapie“ eingegangen bin.

Aber im Ergebnis dessen hat sich auch die Anforderung an das Hundetraining grundlegend gewandelt. Bis weit in die Mitte des vorigen Jahrhunderts spielte die Erziehung des Hundes aufgrund seiner damaligen Rolle als Beschützer und Bewacher nämlich so gut wie keine Rolle, weil sie gar nicht notwendig war. Denn seine Rolle und die sich daraus für ihn ergebenden Aufgaben deckten sich 1:1 mit seinen Grundbedürfnissen, insbesondere mit dem nach Sicherheit, und seinem ureigenen Interesse, dieses Grundbedürfnis eigenverantwortlich zu befriedigen. Der Mensch nutzte quasi den Instinkt des Hundes zur Selbstverteidigung geschickt aus, um auch sich selbst und sein Hab und Gut von ihm beschützen zu lassen.

Da die Erziehung nichts anderes ist, als die Entbindung des Hundes von dieser Verantwortung, war sie quasi gar nicht notwendig.

Wenn er also selbst für seine Sicherheit sorgte, indem er Haus, Hof, Kind und Kegel bis aufs Blut verteidigte, sah jeder es als völlig normal an und kam nicht im Traum auf die Idee, er sei verhaltensauffällig, wenn er diese seine Aufgabe ernst nahm.

Deshalb hat man sich im Rahmen eines – wenn überhaupt notwendigen – Hundetrainings ausschließlich mit seiner Ausbildung – was neben der Erziehung die zweite Säule eines Hundetrainings darstellt – befasst und ihm die unmöglichsten Kunststücke beigebracht. Der typische Fall ist seine Dressur mittels unterschiedlichster Stimuli, meistens in Form irgendeiner Art der Belohnung, wovon noch heute das Leckerli übriggeblieben ist. Modernere Varianten verbrämen das schnöde Locken mit Leckerli heute allerdings mit solch wunderschön klingenden Formulierungen wie „positive Bestärkung“ oder ähnlich. Neulich hörte ich in einem Videobeitrag im Netz sogar eine noch weitaus tollere Formulierungskunst: Die sich darin präsentierende „Hundeexpertin“ kündigte einen folgenden Videobeitrag an, in dem sie sogleich demonstrieren werde, wie sie mittels eines von ihr speziell entwickelten „Doppelten Rückrufs unter Verwendung eines im zweiten Rückruf enthaltenen Ankereffektes“ (Welch eine beeindruckende Wortschöpfung!?) ihren Hund erfolgreich und zuverlässig zurückrufen könne, der offensichtlich mehr Gefallen an einem Mauseloch gefunden hatte, als an Frauchens “erstem Rückruf”. Aber meine Neugierde war trotzdem geweckt, was sich dahinter wohl für eine revolutionäre Neuigkeit verberge? Allerdings war meine Enttäuschung wie so oft groß, denn der „Ankereffekt“ entpuppte sich als nichts anderes als ein Leckerli, das dem Hund gezeigt wurde.

Kurzum, es gab somit auch notwendigerweise nur wenige Hundetrainer und kaum jemanden, der sich mit der Erziehung eines Hundes befasste oder befassen musste.

Das sieht heute jedoch völlig anders aus. Abgesehen vom Training einiger Spezialhunde, bei denen die Ausbildung natürlich nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, rückt die Erziehung des Hundes aufgrund seiner veränderten Rolle in der zivilen Gesellschaft in den Vordergrund. Die Ausbildung ist damit zwar nicht überflüssig, aber sie spielt bei der Beseitigung von heute unerwünschten Verhaltensweisen keine Rolle, weil sie es gar nicht kann, denn dafür fehlen ihr ganz einfach die geeigneten Mittel.

Mittels Ausbildungsmethoden kann man keinen Hund erziehen.

Und man muss es auch gar nicht, weil dafür der Erziehung viel effektivere und vor allem effizientere Mittel zur Verfügung stehen.

Heute soll der Hund die ihm klassischerweise zustehende Aufgabe als Beschützer und Bewacher gar nicht mehr wahrnehmen. Er soll sich stattdessen sozial verträglich, also intraspezifisch und interspezifisch sozialisiert, harmonisch in die menschliche Gemeinschaft integrieren. Er soll heute nicht mehr das zu verteidigende Revier nach Feinden aufklären und mögliche Gefahren erkennen und abwehren. Als ihm diese Aufgabe noch zukam, blieb ihm zum Beispiel nichts anderes übrig als schnüffelnd alle Geruchsinformationen am Boden zu sammeln, einschließlich der Hinterlassenschaften seiner Konkurrenten und Feinde, weil darin viele wichtige Informationen enthalten waren, angefangen von ihren Absichten bis hin zu ihren möglichen Krankheiten. Und wenn Bauer Kurt mit ihm den Hof verließ, musste er vorneweg laufend das Revier erkunden, um seinen Chef vor Gefahren zu bewahren.

All das soll er heute in der Regel aber nicht mehr.

Und wenn ein Hund diese urtypischen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen soll, ist es zwingend und ultimativ notwendig, ihn im Rahmen seiner Erziehung von dieser Verantwortung zu entbinden und ihn damit von seinem ihm ureigenen instinktiven Streben nach Befriedigung seines Grundbedürfnisses nach Sicherheit zu befreien. Allerdings wird dem Hund dies nur dann verständlich sein, wenn ihm von Frauchen oder Herrchen auch demonstrativ gezeigt wird, dass es für ihn gar keine Notwendigkeit mehr gibt, beide zu beschützen, weil nämlich sie dies statt seiner tun. Eine notwendige Geste, um dem Hund zweifelsfrei zu demonstrieren, dass Frauchen ab sofort seinen Schutz übernimmt und auch willens ist, beider Sicherheit zu gewähren, wäre ihr demonstratives Stellen vor den Hund, also zwischen Hund und vermeintlicher Bedrohung, sowie der Alltag solche Situation bietet.

Wenn es aber Frauchen oder Herrchen nicht gelingt, ihm verständlich zu machen, dass er keine Verantwortung mehr trägt, wird er weiterhin seinem Urinstinkt folgen und sich und seine ihm anvertrauten Ressourcen verteidigen. Typische Indizien, dass es nicht gelungen ist, sind jegliche Arten von Aggressionen, das Zerren an der Leine, das Weglaufen ohne oder nur schwer wieder abrufbar zu sein, das An- und Verbellen jeglicher Personen und Tiere usw. Dazu gehört auch das Aufklären des Reviers nach Konkurrenten und Feinden, indem der Boden schnüffelnd regelrecht inhaliert wird. Der Laie verwechselt dann aber dieses eigentlich völlig natürliche Verhalten des Hundes fälschlicherweise mit einer angeblichen Verhaltensauffälligkeit, was nicht nur eine falsche Diagnose darstellt, sondern die Grundlage ist für einen verheerend falschen Therapieansatz. Erstaunlicherweise sogar nicht wenige Hundeschulen meinen nun, den Lösungsansatz darin zu sehen, den Hund mittels Leckerli von diesen angeblichen Verhaltensauffälligkeiten durch den Trick der Ablenkung befreien zu können. Sie meinen, wenn Frauchen dies nur oft genug tue und immer wieder wiederhole, würde der Hund irgendwann von seinem Verhalten – was in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Verteidigung seiner eigenen Sicherheit und die von Frauchen – ablassen. Was für eine verheerende Fehleinschätzung.
Jeglicher Versuch, das unerwünschte Verhalten eines Hundes, welches in seiner nicht erfolgten Entbindung von seiner Verantwortung begründet ist, mittels der Verwendung irgendwelcher Stimuli wie Leckerli o.ä. nachhaltig unterdrücken bzw. beseitigen zu wollen, ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt.