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Die Ursachen menschlichen Fehlverhaltens

Laut Definition ist die Sozialisierung ein „Prozess der Eingliederung bzw. Anpassung des [Heranwachsenden] in die ihn umgebende Gesellschaft und Kultur. Da [er] nicht über [entsprechende] Instinkte verfügt, die sein Handeln steuern, muss er im Prozess der Sozialisation soziale Normen, Verhaltensstandards und Rollen erlernen, um ein im jeweiligen sozialen Kontext handlungsfähiges und verhaltenssicheres soziales Wesen zu werden und seine soziokulturelle Persönlichkeit zu entwickeln.“

Wenn ich diese Definition meinen Kunden, die mich wegen ihres vermeintlich verhaltensauffälligen Hundes gerufen haben, vortrage und sie frage, ob diese Definition wohl auch auf den Hund zutreffe, kommt in der Regel die Antwort: „Ich denke schon.“

Ich habe mich lange Zeit gefragt, woran es wohl liegen mag, dass solche Erkenntnisse, die eindeutig nur den Menschen betreffen, völlig unkritisch auch für Tiere und insbesondere Hunde als zutreffend angesehen werden.

Die Antwort liefern unter anderen die Neuro- oder auch die Kognitionswissenschaften: Das menschliche Gehirn steht nämlich vor einem Dilemma. Denn einerseits liefern ihm die Sinnesorgane nur einen winzig kleinen Bruchteil an Informationen von der realen Welt da draußen. Nehmen wir beispielsweise die visuelle Wahrnehmung: Die Retina in den Augäpfeln mit ihren Stäbchen und Zapfen kann überhaupt nur den kleinen Bereich von ca. 380 nm bis ca. 780 nm Wellenlänge der elektromagnetischen Photonen, die von der Oberfläche eines Objektes reflektiert werden, registrieren. Schon bei den angrenzenden UV- oder Infrarotbereichen ist sie hoffnungslos überfordert.  Andererseits treffen aber immerhin noch rein rechnerisch mehr als ca. 100 Mio. Sinneseindrücke pro Sekunde auf unsere „Antennen“. Selbst diese zwar objektiv sehr wenigen aber subjektiv sehr vielen kann das Gehirn noch nicht einmal ansatzweise verarbeiten. Man geht von etwa 40 dieser 100 Mio. aus. Also muss das menschliche Gehirn quasi ein Wunder vollbringen und aus dieser objektiv sehr begrenzten Anzahl an Informationen, diejenigen herausselektieren, mittels denen es dann ein zwar extrem vereinfachtes aber trotzdem noch halbwegs brauchbares Bild von der Realität produziert, um seinen „Chef“ handlungs- und entscheidungsfähig zu machen.

Dass bei dieser extremen Vereinfachung leider auch eine Vielzahl an falschen Vorstellungen oder „Abbildern“ produziert werden, nahm die Evolution großzügig in Kauf. Nach dem Motto: Lieber überhaupt eine Vorstellung als gar keine. Denn die Konsequenz wäre, nicht handeln oder entscheiden zu können. Typisches Beispiel ist die dunkle Unheil verheißende Gestalt hinter dem Gartenzaun, die sich später, nachdem man sich panikartig in Sicherheit gebracht hat, als harmlose Vogelscheuche entpuppt. Lieber einmal grundlos weggelaufen als einmal zu wenig. Denn diejenigen, die diese Reflexe nicht besaßen, gehören nicht mehr zu unserem Genpool.

Zusätzlich bedient sich das Gehirn beim Versuch, die Realität  in Form einer Vorstellung abzubilden, auch sehr gerne der Anwendung von vereinfachenden Regeln. Der englische Psychologe James Reason hat eine Reihe von Fehlertypen, die dabei auftreten, analysiert und systematisiert. Einer dieser Fehlertypen ist das Anwenden falscher Regeln oder das falsche Anwenden ansonsten richtiger Regeln. Letzteres heißt, der Mensch wendet Regeln auf Situationen fälschlicherweise an, die sich in einem anderen Kontext zwar als richtig bewährt haben, in der jetzigen Situation aber nicht passen. Ein Phänomen übrigens, das auch bei Tieren nachweisbar und offensichtlich eine zumindest beim Säugetiergehirn typische Erscheinung ist. So konnte man Kühe dabei beobachten, die wie selbstverständlich abends bei Eintritt der Dunkelheit von der Weide in ihren Stall trotteten. Gleiches taten sie aber auch, als mittags um zwölf eine Sonnenfinsternis auftrat. Eine Stunde später, als das Spektakel vorbei war, standen sie dann wie verdattert wieder vor dem Stall.

In diese Fehlerfamilie passt auch das Anwenden von Erkenntnissen, die sich zwar in der menschlichen Welt bewährt haben, aber auf die tierische oder hündische Welt nicht anwendbar sind. Ein typisches Beispiel ist der von mir schon mehrfach angesprochene Anthropomorphismus; also das vermenschlichen anderer Wesen. Eine beliebte Methode in der Märchenwelt, wenn wir an die Bremer Stadtmusikanten denken. Kinder können sich aufgrund ihrer noch stark eingeschränkten Assoziationsmöglichkeiten halt die Welt der Tiere besser vorstellen, wenn sie vermenschlicht wird.

Wenn also der Mensch Erkenntnisse aus seiner eigenen Erlebniswelt auf eine andere ihm unbekannte, in unserem Fall die der Hunde, anwendet, ist dies keine böse Absicht, sondern der Versuch, diese andere fremde unbekannte Welt besser verstehen zu können. Wenn der Mensch die Welt des Hundes nicht wirklich kennt, wendet er der Einfachheit halber seine eigene Erlebniswelt auch auf die des Hundes an. Selbst auf die Gefahr hin, sich zu irren. Denn prähistorisch hat es sich ja als Vorteil erwiesen, überhaupt eine Vorstellung zu haben als gar keine.

Die nicht sehr unwahrscheinliche Konsequenz ist dann aber auch, sich hin und wieder zu irren.

Und so passiert es, wenn beispielsweise die oben zitierte Definition der menschlichen Sozialisation eins-zu-eins auch auf den Hund angewendet wird. Denn dann läuft man Gefahr, Welpenspielgruppen, Hundespielwiesen oder sonstige Hundetreffen mit Kindergarten, Spielplatz oder Schule zu verwechseln und für etwas zu halten, was der Sozialisierung diene. Dies ist aber nicht der Fall; im Gegenteil.

Die Sozialisation des Hundes ist nämlich völlig anders begründet und verfolgt damit auch eine völlig andere Zielstellung.

Zwar lässt sich die zitierte Definition teilweise mit etwas Fantasie auf die Erziehungsmaßnahmen einer Hundefamilie adaptieren, wenn Hundevater und Hundemutter ihren Schützlingen durch Vormachen und Korrigieren ein Grundverständnis für den Überlebenskampf vermitteln und sie so auch die Grundregeln des Zusammenlebens in einem Rudel erfahren lassen; denn dafür fehlen auch ihnen die Instinkte.

Aber was heute oftmals mit der beabsichtigten Sozialisierung verbrämt wird, indem beispielsweise Welpenspielgruppen oder Hundetreffen aller Couleur in ihrer Sinnhaftigkeit oder gar Notwendigkeit mit ihr begründet werden, ist reinweg falsch.

Bedauerlicherweise wird dies auch immer wieder durch sogenannte Fernsehhundetrainer, die scheinbar eine große Vorbildwirkung haben, behauptet, dass dem kleinen Welpen im frühen Alter möglichst viele Kontakte zu seinen Artgenossen ermöglicht werden sollten, um ihn auf das spätere „harte Leben“ vorzubereiten. Oder viele Hundefreunde treffen sich regelmäßig zu gemeinsamen Hundetreffen und Spaziergängen, um ihren Schutzbefohlenen die Möglichkeit vielschichtiger „Kommunikationen“ zu verschaffen.

Man nehme mir mein Vokabular bitte nicht übel, aber das ist Quatsch. Und ich bringe es gerne auf den Punkt, auch wenn es für so manch einen Fan der „Hundekommunikation“, der meint, sie sei für das Wohlbefinden des Hundes unabdingbar, eine fette Kröte sein mag:

Kein Hund würde freiwillig zur Steigerung seines Wohlbefindens zu einem fremden Hund, der nicht zu seinem Rudel gehört, Kontakt aufnehmen, um sein Bedürfnis nach Kommunikation befriedigen zu wollen.

Es gibt nur eine einzige Ausnahme, die eine freiwillige Kontaktaufnahme begründet: Die Befriedigung des Bedürfnisses nach Fortpflanzung.

Alle anderen Arten von Kontaktaufnahmen, die fälschlicherweise mit seinem ihm angeblich innewohnenden Bedürfnis nach „freudebereitender Kommunikation“ begründet werden, sind unfreiwillig und nur eine Folge seines instinktiv determinierten Bedürfnisses nach Sicherheit oder Wahrnehmung einer ihm übertragenen Verantwortung.

Das heißt, ein Hund, der zu einem fremden Hund selbstständig Kontakt aufnimmt, will entweder seine Gene weitergeben oder abklären, welche Absichten der andere hegt.

Der Mensch kann dies deshalb so schwer nachvollziehen und sträubt sich offensichtlich mit Händen und Füßen gegen diese Vorstellung, weil ihm selbst im Rahmen der Evolution eine andere Sequenz ins Genom geschrieben wurde. Er ist nämlich regelrecht süchtig nach kommunikativem Kontakt zu seinen Mitmenschen, weil ihm dies im Überlebenskampf einen Vorteil geboten hat. Der Hund aber hat durch den Kontakt zu fremden Hunden keinen Vorteil. Im Gegenteil, sie sind für ihn grundsätzlich Konkurrenten, Rivalen oder sogar Feinde. Der einzige, der ihm im Überlebenskampf einen Vorteil geboten hat, war der Mensch, also sein Frauchen. Deshalb anvertraut er sich ihr auch in Form eines bedingungslosen Andienens bis hin zur Selbstopferung.

Sogar die Wissenschaft hat diesen Unterschied zwischen Mensch und Hund längst nachgewiesen. Wenn Menschen sich begegnen und sympathisch finden, schüttet das Hormonsystem zwei Bekannte aus, Dopamin und Oxytocin; bekannt als Glücks- und Kuschelhormone. Gleiches passiert im Hundegehirn, wenn er Frauchen entdeckt oder beide sich in die Augen schauen. Begegnet er aber fremden Artgenossen, kann man in seinem Urin unter Umständen Katecholamine und Cortisol nachweisen, typische Stresshormone.

Die Sozialisation bei Mensch und Hund ist deshalb nicht identisch, weil nicht nur die Zielstellungen sich voneinander unterscheiden, sondern auch der Grund.

Beim Menschen besteht das Ziel seiner Sozialisation im Kennenlernen und Beherrschen von Regeln, um sozial verträglich miteinander klar zu kommen, um die Vorteile des gemeinsamen Zusammenlebens nutzen zu können. Der Mensch hatte dadurch einen Vorteil im Überlebenskampf, wenn er sich in Gruppen zusammentat. Und der Grund, warum er diese Regeln im Rahmen der Sozialisation erst erlernen muss, liegt in seinen fehlenden Instinkten.

Völlig anders sieht es beim Hund aus. Das Ziel seiner Sozialisation besteht eben nicht in seiner Befähigung zum sozial verträglichen gemeinschaftlichen Zusammenleben mit Fremden, um deren Vorteil im Überlebenskampf zu nutzen. Bei ihm besteht vielmehr das Ziel der Sozialisation darin, ihn von seiner Verantwortung für die eigene oder anderer Sicherheit zu entbinden, weil nur in der Wahrnehmung dieser Verantwortung sein Interesse begründet ist, Kontakt zu fremden Hunden aufzunehmen, bei der es dann unter Umständen zu Aggressionen kommen kann. Wie gesagt, mit einer Ausnahme: Seine Replikationsabsicht.

Wenn beim Menschen die Sozialisation in der Definition mit den fehlenden Instinkten begründet wird, muss sie beim Hund mit ihrem Vorhandensein begründet werden. Das ist ein wesentlicher Unterschied, ob der Mensch aufgrund fehlender Instinkte etwas erlernen muss oder ob der Hund aufgrund vorhandener Instinkte etwas, was er aufgrund dieser Instinkte machen würde, unterlassensoll. Beides ist aber mit dem Begriff Sozialisation belegt.

Der Mensch muss im Gegensatz zum Hund nicht von Urinstinkten befreit werden, die ihn ansonsten sozial unverträglich machen (außer in pathologisch begründeten Fällen), sondern er muss Regeln lernen, die er aufgrund fehlender Instinkte noch nicht kennt. Der Hund aber muss von instinktiv determiniertem Verhalten befreit werden. Und dazu bedarf es keiner sozialen Kontakte zu fremden Hunden.

Der Hund ist im Gegensatz zum Menschen – natürlich graduell unterschiedlich in Abhängigkeit seiner Zuchthistorie – mit Anlagen ausgestattet, die ihn in einer Konkurrenzsituation, in der es von Feinden und Rivalen nur so wimmelt, zurechtkommen lassen. Wir nennen sie das agonistische Verhaltensrepertoire. Wenn wir an all die Hunde denken, bei denen wir aggressive Verhaltensauffälligkeiten bis hin zu Beißattacken auch gegenüber dem Menschen registrieren, müssen wir nicht nur von ihrer Existenz ausgehen, sondern im Gegenteil, wir sollten bedenken, dass diese Anlagen sogar zielgerichtet vom Menschen im Rahmen ihrer Züchtung selektiv verstärkt wurden. Beispielsweise um Haus und Hof zu verteidigen.

Und damit sind wir beim eigentlichen Problem: Der Hund ist durch die Domestikation mit einer Anlage „ausgestattet“ worden, die ihn nicht nur befähigt, sondern geradezu danach streben lässt, sich und sein Frauchen ständig beschützen und verteidigen zu wollen. Demnach muss ihm diese Aufgabe gar nicht erst durch Training oder Ausbildung übertragen werden; im Gegenteil, es ist bereits als Urinstinkt vorhanden.

Nun wäre das alles überhaupt kein Problem, wenn dem Hund, der mit diesen Veranlagungen auf die Welt gekommen ist, auch eine adäquate Aufgabe übertragen werden würde. Das heißt, wenn ein Schäferhund hüten und bewachen oder ein Bull Terrier Kinder beschützen sollte. Denn bemerkenswerterweise spricht kein Mensch bei einem typischen Wachhund, dem auch tatsächlich die Aufgabe zur Bewachung eines Grundstückes übertragen wurde, von seiner notwendigen Sozialisierung. Aber das Übertragen einer adäquaten Aufgabe entsprechend seiner Züchtung ist heutzutage kaum noch der Fall bzw. meistens sogar unerwünscht. Die Liste der Hunde mit ihren angezüchteten unterschiedlichen Fähigkeiten ist bekanntermaßen sehr lang. Aber wenn ich mir die faktischen Aufgaben der Hunde anschaue, zu deren Therapie ich gerufen werden, weil sie vermeintlich verhaltensauffällig sind, und diese mit den ihnen im Rahmen der Rassezucht mitgegebenen wie zwei Blaupausen versuche aufeinanderzulegen, stimmt keines davon überein. In der Regel wird heute ein Großteil der Hunde nicht mehr entsprechend ihrer Fähigkeiten angeschafft, sondern vorwiegend als Begleithund oder gar als eine Art sozialer Ersatz. Er soll heute dem Menschen als Partner dienen, der den Alltag verschönert und zu gemeinsamem Spiel und Spaß motiviert.

Die notwendige Konsequenz ist, wenn der Hund nicht mehr die ihm eigentlich angezüchteten Fähigkeiten nutzen soll, dass ihm demonstrativ gezeigt werden muss, dass er diese Aufgaben nicht mehr hat. Er muss also durch Sozialisation von seinen Aufgaben, die er instinktiv determiniert wahrnehmen will, entbunden werden.

Im Ergebnis einer erfolgreichen Sozialisation wird der Hund alle anderen fremden Hunde ignorieren und ab sofort keinerlei Interesse mehr an ihnen zeigen. Denn warum auch? Sie sind ab sofort keine Konkurrenten, Rivalen oder gar Feinde mehr. Das ist sowohl der Grund als auch das Ziel seiner Sozialisation.

Demzufolge ist die Sozialisierung des Hundes nicht seine Gewöhnung an fremde Hunde, um mit ihnen in einer Art friedlichen Koexistenz zusammenzuleben, sondern die Entbindung von seiner Verantwortung, die er instinktiv übernehmen würde, wenn man ihn davon nicht bewusst befreit. Ob sie erreicht ist, lässt sich unschwer daran messen, ob er Fremde ignoriert. Rennt er allerdings bei einem Hundetreffen oder auf der Hundespielwiese vermeintlich freudig erregt auf sie zu, ist er von seiner Sozialisierung noch weit entfernt.

Eine abschließende und positive Nachricht für alle Skeptiker, die an der Machbarkeit einer solchen Sozialisierung zweifeln, habe ich noch:

Was nämlich den Hund wesentlich von seinem Urvater, dem Wolf, unterscheidet, ist seine relativ widerspruchslose Bereitschaft, die Verantwortung für seine eigene Sicherheit in die Hände von Frauchen oder Herrchen zu legen. Ein Wolf hingegen wird kaum seinem Betreuer, selbst wenn er ihn per Flasche aufgezogen haben sollte, die Verantwortung für seine eigene Sicherheit anvertrauen. Der Hund sieht das aber relativ entspannt, denn es ist ihm seit über 30.000 Jahre demonstriert worden, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, ihn nicht nur zu ernähren, sondern ihn sogar zu beschützen. Im Gegenzug erfüllt er ihm alle möglichen und unmöglichen Aufgaben.

Allerdings ist dieses Anvertrauen der eigenen Sicherheit in die Verantwortung des Menschen kein Selbstläufer. Zunächst einmal, wenn ihm diese Verantwortung nicht demonstrativ abgenommen wird, sieht er sich grundsätzlich in der Eigenverantwortung und strebt instinktiv selbst nach Schutz der eigenen Unversehrtheit. Im Rahmen der Sozialisation muss und kann dieser Instinkt aber in relativ kurzen Erziehungseinheiten in seiner Wirkung unterdrückt werden. Und seine Bereitschaft wird mit einem völlig entspannten Leben an der Seite von Frauchen honoriert. Stress ist für den Hund ab sofort ein Fremdwort. Und sollte ein Vertreter seiner Artgenossen seinen Weg kreuzen, wird er allenfalls höchst gelangweilt die Augenbrauen heben. Außer die Schönheit kokettiert mit Läufigkeit.