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Gibt es ein normatives Verhalten des Hundes?

Sie kennen sicherlich solche Sprüche wie: „Es gibt keine Problemhunde, sondern nur Problemherrchen“ oder „Das Problem befindet sich nicht unten, sondern am oberen Ende der Leine!“ oder „Therapiert werden sollten nicht die Hunde, sondern deren Besitzer!“.

Sind das nur tierliebende Meinungen aus dem Bauchgefühl, die dann zwar für den Hund lieb gemeint wären, aber keiner seriösen Überprüfung standhalten würden? Oder gebe es für solche Aussagen sogar eine sachliche Begründung?

Ich habe aus meiner Praxis für alle Sympathisanten solcher Sprüche eine positive Nachricht:

Wenn alle Verhaltensweisen eines Hundes am Maßstab ihrer Normalität gemessen werden, gibt es tatsächlich kaum ein anormales oder Problemverhalten. Die wenigen Ausnahmen sind eher genetischer, medizinisch-klinischer oder pathologischer Natur und können weitestgehend vernachlässigt werden. Jedenfalls spielen diese statistisch, zumindest aus meiner Erfahrung, so gut wie keine Rolle.

Warum ist das so? Oder warum gibt es eigentlich gar keine Verhaltensauffälligkeiten, an denen ein “Problemhund” festgemacht werden könnte?

Wenn man das Verhalten eines Hundes bewerten und zu einer Aussage kommen wollte, ob es „normal“ oder „anormal“ ist, ob der Hund ein „Problemhund“ ist oder nicht, müsste man zuvor einen Maßstab definieren, an dem man sein Verhalten hinsichtlich seiner Normalität oder Anormalität bemessen kann. Das ist ähnlich wie der Versuch, etwas als dick, dünn, groß oder klein zu beschreiben. Ohne einen Maßstab, worauf sich der Vergleich bezieht, wäre die Aussage sinnlos. Denn was für den einen groß ist, muss für den anderen noch lange nicht groß sein. Und was für den einen Hundehalter normal ist, muss für den anderen eben noch lange nicht unproblematisch sein.

Bezogen auf das hündische Verhalten wäre es somit notwendig, eine Art Norm zu definieren, anhand derer man das Verhalten des Hundes bewerten kann. Da stellt sich allerdings die Frage, ob es denn überhaupt ein normatives oder normales Verhalten des Hundes geben und dann als Maßstab oder Norm gelten kann?

Ich bin der Meinung: Ja, es gibt einen solchen Maßstab. Und dieser ist das Verhalten des Hundes zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse. Alles Verhalten, welches der Hund an den Tag legt, um seine drei Grundbedürfnisse zu befriedigen, müssen wir, ob wir das nun für gut befindet oder nicht, zunächst als normal bewerten. Auch wir Menschen würden es als normal ansehen, wenn wir uns Nahrung besorgen, weil wir Hunger haben oder eine Familie gründen, um uns fortzupflanzen. Und sogar das Strafgesetzbuch gewährt uns die Freiheit – und sieht es übrigens als normal an – uns zu verteidigen, wenn wir uns in unserer Sicherheit bedroht sehen.

Der Hund hat drei Grundbedürfnisse: Nahrung, Fortpflanzung und Sicherheit. Die ersten beiden können aber im hiesigen Kontext, wenn wir über vermeintliche Verhaltensauffälligkeiten sprechen, die das Zusammenleben von Mensch und Hund stören, ignoriert werden, da sie nur einen vernachlässigbaren Einfluss auf ein problematisches Verhalten haben.

Bleibt das Bedürfnis nach Sicherheit. Und zwar im engeren wie im weiteren Sinne. Im engeren Sinne ist damit seine eigene Gesundheit oder physische Unversehrtheit gemeint. Im weiteren Sinne ist es einerseits die Sicherheit seines „Rudels“, sprich Herrchen oder Frauchen einschließlich Kind und Kegel oder sonstige Familienmitglieder, zu denen auch weitere Hunde gehören können. Und andererseits die Sicherheit jeglicher Ressource, die ihm zugestanden oder für die ihm die Verantwortung übertragen wurde.

Zur Gewährleistung seines Bedürfnisses nach Sicherheit steht dem Hund ein relativ großes Repertoire an Verhaltensweisen zur Verfügung, mittels derer er im Rahmen seines ihm zustehenden oder zugestandenen Entscheidungsspielraumes agiert. Dazu zählen alle agonistischen Verhaltensweisen wie Aggressionen, Angriff oder Verteidigen und Beharren bis hin zu Flucht oder Schlichtung. Auch das Imponiergehabe oder die Demutsgebärden und Beschwichtigungssignale gehören dazu. Es betrifft demzufolge alle Verhaltensweisen, die im Zusammenhang mit Konkurrenz und  Rivalität stehen.

Somit gilt im Umkehrschluss: Wenn der Hund seine Sicherheit bedroht sieht, im engeren wie im weiteren Sinne, müssen wir es als normal akzeptieren, wenn er eines dieser Verhaltensweisen nutzt, um die Bedrohung abzuwenden.

Und damit haben wir einen Maßstab, an dem wir jedes Verhalten relativ zuverlässig hinsichtlich ihrer Normalität bewerten können:

Wenn beispielsweise der Hund wie ein Geisteskranker an der Leine zerrt und Frauchen wie eine Fahne hinterherflattert, ist es mitnichten ein Problemverhalten. Im Gegenteil, es ist ein sicheres Indiz dafür, dass Frauchen ihm die Verantwortung für die gemeinsame Sicherheit übertragen hat und er nun zu ihrer Gewährleistung die dazu im Revier notwendige Aufklärungsarbeit leisten will, ob vielleicht irgendwelche Gefahren da vorne lauern, die es gilt zu erkennen und zu bekämpfen. Also ein völlig normales Verhalten. Oder wenn der Hund hinterm Zaun des Grundstücks wie bekloppt fremde Menschen ankläfft, obwohl er sie schon hundertmal gesehen hat, ist es normal, weil er dies zur Verteidigung des ihm übertragenen Reviers tut. Es ist ebenso vollkommen normal, wenn ein bis dahin entspanntes Schlendern durch den Park plötzlich zu einer Tortur des Kräftemessens zwischen Herrchen und Hund ausartet, weil letzterer am Horizont einen Feind entdeckt und meint, sich von der Leine reißen und diesen bekämpfen zu müssen, weil er um seine und die Sicherheit des Herrchens fürchtet, denn dieser hat ihm dazu offensichtlich den Auftrag erteilt und den entsprechenden Entscheidungsspielraum überlassen. Auch ist es absolut normal, wenn Bello allein in der Wohnung zurückgelassen selbige zerlegt, weil er sich des Verlustes der Kontrolle über Frauchen bewusst wird, welche sie ihm zuvor zugebilligt hat. Und es ist genauso normal, wenn Hasso sich ängstlich verkriecht, weil die Silvesterknaller ihm Angst einflössen und Herrchen ihm nicht eindeutig signalisiert hat, ihn jederzeit und vor jeder nur möglichen Gefahr zu bewahren.

Warum erscheint es dem einen oder anderen dann aber trotzdem als Verhaltensauffälligkeit oder Problemverhalten, obwohl der Verhaltensbiologe sagen würde: “Kenn’ ich; alles normal; Entwarnung!”?

Die Antwort finden wir in der Tatsache, dass Herrchen oder Frauchen ihren eigentlich Schutzbefohlenen solche Verantwortlichkeiten unbewusst oder unwillentlich übertragen. Es ist ihnen nicht bewusst. So ist es immer wieder verblüffend, wie die Kunden mich ungläubig anschauen, wenn ich sie zu Beginn des Trainings frage, warum sie ihrem Hund denn diese Verantwortungen übertragen haben oder warum sie ihn nicht beschützen. Es ist den Hundehaltern, wenn sie ein bestimmtes Verhalten ihrer Lieblinge als unnormal empfinden, in der Regel nicht bewusst, dass ausschließlich sie selbst und ihr Verhalten die Ursache dafür sind. Dass es ihnen unbewusst ist oder sie es unwillentlich getan haben, erkennt man gerade daran, dass sie das Verhalten ihrer Hunde als auffällig oder problematisch beschreiben, obwohl es verhaltensbiologisch der Norm entspricht.

Das Gegenbeispiel macht es doch deutlich: Kein Hundehalter würde es als Verhaltensauffälligkeit bewerten, geschweige denn, seinen Hund therapieren wollen, wenn er ihn zum Spürhund hat ausbilden lassen und der Hund dieser Aufgabe nachkäme und wie ein Wilder herumschnüffelt. Und es wird auch kein Wachhund zur Therapie geschickt, wenn er ein Grundstück aufmerksam kontrolliert, aufklärt und potentielle Eindringlinge verscheucht.

Ergo liegt die „Entpuppung“ beinahe aller sogenannten Verhaltensauffälligkeiten auf der Hand und sie geben sich als normales Verhalten zu erkennen. Immer wenn der Hund ein Verhalten zeigt, welches sein Besitzer als auffällig oder störend empfindet, sollte selbiger sich fragen, durch welche Gesten oder Handlungen er dem Hund die Verantwortung für seine Sicherheit übertagen hat. Dass er sie ihm übertragen hat, steht außer Frage, denn ansonsten würde der Hund sich nicht so verhalten wie er sich verhält.

Und daraus ergibt sich mein Therapieansatz: Wenn dem Hund eindeutig demonstriert wird, dass Herrchen oder Frauchen für ihn stets berechenbare Führungspersönlichkeiten sind, an denen er sich zuverlässig orientieren kann und die ihm ständig und stets sein Grundbedürfnis nach Sicherheit befriedigen, ihm also auch keine Verantwortlichkeiten für irgendeine Ressource übertragen, wird der Hund ihnen dies mit einer schier unglaublichen Gelassenheit und Ausgeglichenheit danken. Im Ergebnis dessen verliert der Hund beispielsweise auch jegliches Interesse an anderen Artgenossen, weil sie nicht mehr seine Rivalen, Konkurrenten und Feinde sind. Aggressionen oder sonstige Auffälligkeiten werden diesem Hund fremd sein. Und er wird auch kein Verlangen mehr haben, mit anderen Rivalen auf der Hundewiese zu „spielen“ oder an “Raufergruppen” oder sonstiger “Hundetreffen” teilhaben zu wollen. Außer er will sich fortpflanzen.