Kürzlich bat mich ein Kunde um meine Meinung über eine so genannte „Raufergruppe“, in die „unsoziale“ Hunde geschickt würden, mit der Absicht sie zu therapieren. Er beschrieb mir dieses Prozedere sinngemäß so, dass angeblich verhaltensauffällige und insbesondere aggressive Hunde, die gegenüber anderen Hunden also nicht sozialisiert sind, losgeleint in ein Rudel fremder Hunde geschickt würden, um anschließend, quasi durch das Rudel „geheilt“, aus diesem Scharmützel therapiert wieder herauszukommen. Und damit sie bei dieser Aktion keinen Schaden anrichten, würden sie mit einem Maulkorb ausgerüstet. Auf meine ungläubige Nachfrage bestätigte er mir, dass dies sogar in Hundeschulen so praktiziert werde.

Nun kenne ich solche Praktiken aus den mir bekannten Hundeschulen zwar nicht, aber ich wollte auch nicht an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Deshalb wollte ich ihm zumindest eine Bewertung aus meiner Sicht geben, bevor er tatsächlich auf die absurde Idee käme, seinem Schutzbefohlenen ähnliches antun zu wollen:

Sollte so etwas wie beschrieben tatsächlich praktiziert werden, wären zwei Sachverhalte zu bedenken:

  1. Einen Hund, bei dem eine so genannte intraspezifische Sozialisierung nicht oder noch nicht stattgefunden hat, losgeleint und seitens des Hundehalters willentlich in eine agonistische Auseinandersetzung mit einer Meute seinesgleichen zu schicken, käme einem massiven Bruch des eigentlich in einer Therapie aufzubauenden Vertrauens zwischen Hundehalter und seinem Hund gleich. Es wäre also der Worst Case.
  2. Die eigentliche Ursache des „unsozialen“ Verhaltens des Hundes würde dadurch nicht nur nicht beseitigt, sondern im Gegenteil, auf dramatische Weise sogar noch verstärkt.

Zur Erklärung dessen und zum Verstehen dieser Zusammenhänge macht es Sinn, sich zwei Fragen zu beantworten:

  1. Welche Einflussfaktoren begründen das soziale Verhalten eines Hundes und verursachen bei ihm u.U. Auffälligkeiten wie Aggressionen?
  2. Welche notwendigen Schlussfolgerungen müssen sich daraus für seine Erziehung oder u.U. eben für seine Therapie ableiten?

Das soziale Verhalten des Hundes wird im Wesentlichen durch sein Streben nach  Befriedigung seiner Grundbedürfnisse beeinflusst. Dabei können wir aber vereinfachend das Bedürfnisse nach Stoffwechsel, also Nahrung, und das nach Fortpflanzung im hiesigen Kontext außer Acht lassen, da ersteres als grundsätzlich befriedigt gelten kann, wenn er mit einem Menschen in Gemeinschaft lebt, und letzteres nur temporär wirkt, wenn wir an die Läufigkeit denken. Jedenfalls spielen sie im Zusammenhang mit zu therapierenden Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen nur eine unbedeutende Rolle.

Ergo bleibt das Grundbedürfnis nach Sicherheit. Dieses Bedürfnis spielt nach meinen Erfahrungen tatsächlich die Hauptrolle, wenn es um Verhaltensauffälligkeiten geht, insbesondere bei Aggressionen aller Art. Dabei darf aber Sicherheit nicht nur im engen Sinne verstanden werden, wie das Bedürfnis nach physischer Unversehrtheit, sondern auch im weiteren Sinne. Damit ist sowohl die Sicherheit von Herrchen oder Frauchen gemeint, für die sich der Hund durchaus verantwortlich fühlen kann, so er dies signalisiert bekommen hat, als auch eine Art Sicherheit, die sich aus der Verteidigungsabsicht irgendeiner bedrohten Ressource ergibt, für die er die Verantwortung trägt.

Demzufolge sollte das Erziehungsziel eines Hundes und insbesondere das Ziel seiner Therapie, im Rahmen dessen seine intraspezifische, interspezifische oder umweltspezifische Sozialisation angestrebt wird, immer sein, ihn von allen Verantwortlichkeiten, die sein Sicherheitsbedürfnis betreffen, zu befreien. Denn ein Hund, bei dem dieses Bedürfnis als befriedigt und von Herrchen oder Frauchen als gewährleistet gilt, wird kaum eine Verhaltensauffälligkeit entwickeln, außer es liegen genetische oder sonstige pathologische Befunde vor. Somit ist das A und O der Erziehung oder Therapie eines Hundes, ihm zu zeigen, dass er sich in allen Lebenssituationen zuverlässig an Herrchen oder Frauchen orientieren kann, sie also für ihn stets berechenbare Führungs- oder Leitfiguren sind und er ihnen uneingeschränkt vertrauen kann, insbesondere was die Gewährleistung seiner Sicherheit betrifft.

Ich unterstelle, dass es sich im oben beschriebenen Fall um Hunde handelt, deren intraspezifische Sozialisation bisher nicht erfolgt ist, sie also andere Hunde als Konkurrenten, Rivalen oder sogar Gefahr ansehen. Denn warum sonst wollte man sie zu therapeutischen Zwecken in ein Rudel fremder Hunde schicken? Und ich unterstelle weiterhin, dass die Hundehalter ihnen die Verantwortung für ihre eigene oder sogar ihre gemeinsame Sicherheit oder einer Ressource unbewusst übertragen haben. Dass sie dies unbewusst getan haben, zeigt sich daran, dass sie das Verhalten ihrer Hunde als auffällig oder „unsozial“ beschreiben oder empfinden, was sie andernfalls nicht täten. Als Beispiel nenne ich gerne den ausgebildeten Wach- und Schutzhund. Denn diesem wurde im Rahmen seiner Erziehung bewusst diese Verantwortung zur Verteidigung oder Gefahrenabwehr übertragen und ihm im Rahmen seiner Ausbildung das entsprechende Handlungsrepertoire für den ihm zugestandenen Entscheidungsspielraum antrainiert. Niemand würde hier auf die absurde Idee kommen, diesen Hund aufgrund eines angeblich „unsozialen“ Verhaltens therapieren zu wollen. Im Gegenteil, seine Aggressionen werden in diesem Falle als normal empfunden.

In den hier gemeinten Fällen geht es aber um Hunde, denen offensichtlich seitens ihrer Halter unbewusst demonstriert wurde, dass sie entweder nicht willens oder nicht in der Lage sind, für ihre eigene Sicherheit und die ihrer Hunde zu sorgen und dies stattdessen von ihren „Schützlingen“ verlangen. Das daraufhin seitens der Hunde gezeigte Verhalten wird dann aber fälschlicherweise als „unsozial“ bewertet, obwohl der Hund tatsächlich nur einen tollen Job macht, wenn er zur Erfüllung seiner ihm übertragenen Aufgaben andere Hunde attackiert. Ein solcher Hund ist weit davon entfernt, seinem Besitzer zu vertrauen, er werde ihn in Gefahrensituationen zuverlässig beschützen.  Er wird seine Sicherheit immer in die eigenen Pfoten nehmen, was sich dem Laien aber als vermeintliche Aggressionen darstellt.

Insofern wäre es doch absurd, einen solchen Hund, dazu noch willentlich, in eine weitere „Schlacht“ zur Verteidigung ihrer beider Sicherheit zu schicken. Denn als nichts anderes als eine solche stellt sich die Situation für den Hund dar, wenn Herrchen ihm die Leine löst und damit den Befehl erteilt, die feindliche Meute aufzumischen. Dem Hund wird damit jedenfalls wiederholt seitens des Hundehalters demonstriert, und somit manifestiert, dass er, der Hundehalter, zu feige ist, ihn und sich selbst zu beschützen. Als verstärkendes Element kommt sogar noch hinzu, dass der Hund sehr wohl die Geste des bewussten Lösens der Leine versteht. Er wird im Ergebnis dessen also in seinem bisherigen Verhaltensmuster sogar noch bestärkt und nicht wie eigentlich vorgegeben, korrigiert, geschweige denn therapiert.

Eine solch vermeintliche “Rudeltherapie” kann durchaus zur Verhaltensänderung des Delinquenten führen. Aber das ist dann eher das Ergebnis einer situationsabhängigen Unterdrückung seines Verhaltensmusters, bedingt durch ein starkes und selbstbewusstes Rudel, so dass er in eine Vermeidungsstrategie übergeht. Der eigentliche Grund seines bisherigen Verhaltens wäre damit aber mitnichten beseitigt.